105-jährige Zeitzeugin:Was die Schülerin Trudl vom Ersten Weltkrieg mitbekam

Gertrud Dyck

Gertrud Dyck erinnert sich an ihre Kindheit vor 100 Jahren.

(Foto: Daniel Hofer)

Kaiser Wilhelm II. herrscht über die Deutschen, als Gertrud Dyck 1908 in Berlin geboren wird. Sie kommt in die Schule, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Ist Mutter, als der Zweite Weltkrieg tobt. Eine 105-Jährige erinnert sich.

Von Anna Günther. Mit Videos von Daniel Hofer.

Wenn Gertrud Dyck Geschichten aus ihrem Leben erzählt, springen ihre Gedanken. Wie hüpfende Kinder, von einem Stein zum nächsten. Und mit jedem Sprung fällt ihr eine neue Anekdote ein. Vergessen ist das kleine Zimmer in einem Altenheim am Stadtrand von München, wo sie seit Jahren lebt.

Gertrud Dyck ist eingetaucht in ihre Kindheit. Und sie singt: "In Rixdorf ist Musike, da gibts ne Pferdebahn. Det eine Pferd, det zieht nicht, det andre, det is lahm. Der Kutscher, der is bucklig, die Deichsel, die is krumm. Und alle fünf Minuten, da kippt die Karre um."

Als Gertrud Dyck ein kleines Mädchen war, erklang in Küchen und Kneipen dieser Gassenhauer - vor mehr als 100 Jahren. Berlin-Neukölln hieß noch Rixdorf. Über die Deutschen herrschte Wilhelm II., Kaiser von Gottes Gnaden.

Gertrud Dyck

Die alten Fotos hütet sie wie einen Schatz: Etwa das Bild vom Geburtshaus in der Cotheniusstraße in Friedrichshain.

(Foto: Daniel Hofer)

1908 wurde Gertrud Dyck in Berlin-Friedrichshain geboren, zu Beginn eines Jahrhunderts, das so verheißungsvoll begann und dann von zwei Weltkriegen geprägt war. Sie hat Hunger und Kälte erlebt, die Berichte von der Front sehnsüchtig erwartet. Die schönsten und wichtigsten Nachrichten lauteten: Er lebt noch. Im Ersten Weltkrieg bangte sie um den Vater, im Zweiten um ihren Ehemann. Erfahrungen, die Spätgeborene erschaudern lassen und Fragen aufwerfen, wie man selbst all das überstanden hätte - und das zwei Mal.

Viele Kinder, kein Geld, der Mann im Krieg

Doch die heute 105-Jährige strahlt eine Lebensfreude aus, kichert und macht Scherze, als hätte ihr all das nichts anhaben können. Selektives Erinnern? Vielleicht ist Weglachen die einzige Möglichkeit, die Bilder zu verdrängen.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, kam Trudl Bandow, wie sie damals noch hieß, gerade in die Schule. Zwei Monate später wurde ihr jüngerer Bruder Heinz geboren und ihr Vater Fritz nach Belgien abkommandiert. Mutter Lina war allein mit vier kleinen Kindern und musste sehen, wie sie die Familie durchbrachte. Wie ihre Mutter das damals geschafft hat, fragt sie sich noch heute. Darüber gesprochen haben sie nie.

Der Malermeister Fritz Bandow war in die Hauptstadt Preußens gekommen, um dort sein Glück zu machen. Die Familie lebte - wie viele Handwerker und Arbeiter aus Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Schlesien oder Pommern - in Friedrichshain, unweit der Fabriken, ein klassisches Arbeiterviertel, Hochburg der SPD und nach 1918 auch der Kommunisten.

Für die Geschwister waren die Mietskasernen mit den verschachtelten Hinterhöfen rund um die Cotheniusstraße 7 ein riesiger Spielplatz. Mit den Nachbarskindern tollten sie im Park umher, bauten Hütten aus Laub, machten Ausflüge zum Märchenbrunnen oder besuchten Bekannte zum Beerenpflücken. Die Zeiten waren nicht leicht, die Kinder frei; jedenfalls in ihrer Erinnerung.

Dann kam der Krieg. Vater Fritz war an der Front, in der Wohnung wohnten fremde Menschen. Um etwas Geld einzunehmen, vermietete Mutter Lina Zimmer an Menschen, die aus den Regionen im Osten geflohen waren, dort, wo die Front war.

Der Krieg hatte viele traumatisiert. Eine Mieterin schrie im Schlaf, träumte von glühenden Kohlen, die auf ihren Kopf prasselten. Mutter Bandow musste der Frau kündigen, das konnte sie ihren Kindern nicht antun.

Die Geschwister ärgerte eher, dass plötzlich Türen verschlossen blieben und sie nicht mehr durch alle Räume toben konnten. Das große Zimmer mit Balkon bewohnte ein Mann aus dem Polnischen, dessen Essgewohnheiten irritierten. Er strich Leberwurstbrote mit Marmelade. "Brrr, das hat uns geschüttelt, aber frech wie wir waren, wollten wir trotzdem auf den Balkon", sagt die alte Dame, beinahe trotzig, wie ein kleines Mädchen. Richtige Gören seien sie gewesen, sagt Dyck.

Das letzte Kriegsjahr war das schlimmste

Das Geld war knapp, der Hunger ein ständiger Begleiter, je länger der Krieg dauerte. Oft standen die Kinder mit knurrenden Mägen am Fenster und warteten auf die Mutter. "Das war nicht immer einfach und die Mama wollte auch mal was essen", sagt Dyck. Die schlimmsten Erinnerungen habe sie an 1918, das letzte Kriegsjahr, und an schlechtes Schwarzbrot. "Das war scheußliches Zeug, das klebte an der Zunge, wenn man da reingebissen hat."

Ihre spätere Schwiegermutter habe im Ersten Weltkrieg morgens immer Kohlrüben gegessen, damit der Magen voll wurde, erzählt Dyck. Was auf den zugeteilten Essensmarken stand, bekamen ihre Kinder. Als die Familie entdeckte, dass die alte Frau unterernährt war, hatte sie bereits einen Buckel vom Nährstoffmangel.

Getrud Dyk

Gertrud Dyck und ihr Mann Gerhard 1935 mit der ersten Tochter Margarete.

(Foto: Daniel Hofer)

Neben dem knurrenden Magen gehörte auch die Kälte zur Kindheit im Krieg. Wenn ihre Kinder froren, musste Lina Bandow improvisieren. Sie manipulierte den Gas-Zähler.

Und dann war da die Sorge um den Vater. Jeder Brief wurde sehnlichst erwartet. Aus Belgien schrieb er von erwachsenen Männern, die auf der Straße Murmeln spielten. Heute noch schüttelt Dyck vergnügt den Kopf, Boule kannten sie in Friedrichshain damals nicht. Einmal im Jahr durften die Soldaten nach Hause. Beim letzten Heimaturlaub des Vaters im November 1918 hatte die Familie Glück. Am Tag vor seiner Rückkehr zur Truppe schwiegen die Waffen an den Fronten.

Mit dem Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 endeten die Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg. Zuvor hatten im Reich die Arbeiter und Soldaten revoltiert. Die Republik wurde ausgerufen, Kaiser Wilhelm II. und die anderen deutschen Fürsten dankten ab. Eine Zeitenwende. In den Straßen von Berlin herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Linke und Rechte bekämpften sich, die Kommunistenführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden ermordet.

Gertrud Dyck will von alledem nichts mitbekommen haben. Ein "Revolutiönchen" sei das gewesen, behauptet sie. "So wild war das nicht". Der Familie war anderes wichtig. "Wir waren vor allem froh, dass der Papa wieder da war", so empfand es die damals Zehnjährige. Politik habe zu Hause sowieso nie eine Rolle gespielt, sagt Dyck heute und blickt auf ihre Hände. Kapitalisten seien ihre Eltern keine gewesen, eher ein bisschen links, SPD-Klientel.

Gertrud Dyck

Gertrud Dyck spricht von den Kriegsjahren. 1922 stirbt der Vater, schon als junges Mädchen muss sie erwachsen werden.

(Foto: Daniel Hofer)

Die Kindheit endete, als der Vater starb

Geld für einen Teppich hatten sie nicht, also malte ihr Vater einfach einen Perser auf den Wohnzimmerboden. "Den Papa" idealisiert die alte Dame auch mit 105 Jahren, wie es viele Mädchen tun, besonders wenn sie sich früh von ihrem Vater trennen mussten. Der Vater, der sang, wenn er Bilder malte, weil es keine Aufträge gab. Die Wände in dem kleinen Altenheimzimmer sind voll von seinen Bildern. "Wir hatten sogar eine nackte Jungfrau im Flur hängen", sagt Gertrud Dyck und gluckst vergnügt. "Eine nackte Frau, die aus dem Wasser steigt."

Das Glück, dass der Vater den Krieg überlebt hatte, währte nicht lange. Fritz Bandow starb an einem Schlaganfall, als seine Tochter 14 Jahre alt war. Die Tränen kann sie auch 90 Jahre später kaum zurückhalten. Mit dem Tod des Vaters endete 1922 ihre Kindheit, sie brach die höhere Schule ab. "Ich wollte unbedingt Geld verdienen und die Mama unterstützen."

Sie begann eine Ausbildung im Konfektionshaus "Leffmann und Loewenstein", deren Eigentümer jüdische Deutsche waren. Neun Jahre blieb Dyck dort. Mit 18 lernte sie ihren Mann Gerhard kennen, mit 22 heiratete sie ihn und gab ihren Job auf. Was aus den Kaufleuten wurde, weiß die alte Dame nicht genau. Einer der beiden sei nach Palästina ausgewandert, sagt sie, "das war ein intelligenter Mann, der traute den Nazis nicht." Sein Kollege blieb. Er glaubte, dass ihn der Dienst fürs Vaterland im Ersten Weltkrieg und das Eiserne Kreuz schützen würden.

Als der Kaufmann Gertrud Dyck anschrieb, um sie zurück in die Firma zu holen, schritt Ehemann Gerhard ein. Wohl, weil er nicht wollte, dass sie nun, in der Diktatur, bei einem Juden arbeitet. Die Brisanz hinter dem Veto ihres Mannes lacht die alte Dame heute weg. "Da hat er gesagt, er könne seine Frau ja wohl alleine ernähren - so hieß das damals, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen."

Für Juden zu arbeiten war gefährlich. Nur eine Notiz in der Datenbank der Jüdischen Gewerbebetriebe Berlins, verwaltet von der Humboldt-Universität, ist von der Firma geblieben: Leffmann & Loewenstein, Modellkonfektion (Textil und Bekleidung), Eingetragen 1910, Liquidiert: 1934.

Über die Hitler-Zeit will sie nicht reden - nie wieder

Geschichte wiederholt sich für Dyck, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Als Kind bangte sie um ihren Vater, als Erwachsene um ihren Mann. Zu kurz war die unbeschwerte Zeit zwischen den Kriegen. Dycks Mann Gerhard war im Zweiten Weltkrieg in Norwegen stationiert, sie blieb mit den Töchtern Margarete und Dorothea zurück, die Kleinkinder waren.

"Nazizeit", so nennt Gertrud Dyck die Jahre, in denen sie erneut Ängste und Krieg erlebte. Sprechen will sie lieber nicht darüber. Als Gertrud Dyck im Alter von 98 Jahren ins Altenheim zog, hatten andere Senioren Gesprächskreise über die Kriegszeiten gegründet. Dyck weigerte sich: "Ich habe mir geschworen, nie wieder! Da redest du nicht drüber, Schluss und vorbei. Wenn du dann was sagst, bist du noch verfeindet mit den Leuten." Ein bisschen erzählt sie dann doch: "Anhänger waren wir nie, wir mussten immer aufpassen." Ihr Mann und die Mädchen waren Mennoniten, Anhänger einer evangelischen Freikirche, sie selbst blieb Protestantin.

"Wir mussten immer so machen", Dyck hebt die Hand zum Hitlergruß. Blitzschnell fällt sie herab in den Schoß und sucht nach der anderen Hand. Festhalten, die verbotene Geste wegdrücken. Wenn sie konnte, habe sie das vermieden, sagt Dyck. "Manchmal musste man, sonst wäre man eingelocht worden, dann wäre ich heute nicht hier." Sie schüttelt den Kopf, blickt auf ihre Hände. Heute könne sich doch niemand vorstellen, wie das damals war, murmelt sie.

Als das alte Dresden unterging, floh Dyck nach Bayern

1943 ging Dyck mit den Töchtern nach Danzig. Zwei Jahre später, als die Ostfront schon bedrohlich nahe gekommen war, konnte sie die Stadt an der Ostsee gerade noch rechtzeitig verlassen. Für die alte Dame ist es der Tag der Flucht, der Tag "als Dresden aus der Luft zerschmettert wurde." Am 23. Februar 1945 saß sie im Zug, sah wie verzweifelte Menschen sich an fahrende Waggons festklammerten, Kinder im Arm. Hauptsache weg. Im böhmischen Eger mussten sie warten, ein Kriegsversehrter half ihr mit dem Koffer, doch er erwartete eine Gegenleistung: Entlohnen sollte sie ihn später im Bett. Den Koffer hat Dyck ihm wieder abgenommen: "Ich war zwar ein armes Luder, aber das? Nee!"

Nach unzähligen Stunden war Dyck mit den Kindern im oberbayerischen Starnberg angekommen. Das Leben war gerettet. Sie kamen bei der Tante unter. Am Tag als ihr Mann aus amerikanischer Gefangenschaft kam, stand er rabenschwarz vor seiner Frau und den Töchtern - er war auf einem Kohlewagen nach Bayern gereist. Den ersten Anblick ihres Mannes hat Dyck nie vergessen: der Schwager schrubbte "den Nackedei" in der Wanne ab.

Die Familie blieb in Bayern. Gerhard Dyck arbeitete wieder als Lehrer. 1977 starb er, 47 Jahre nachdem er Gertrud Dyck geheiratet hatte. Seitdem ist sie Witwe, doch ihre Fröhlichkeit, ihr Strahlen hat sie nicht verloren. Ihre Töchter, fünf Enkel und acht Urenkel kommen regelmäßig zu Besuch. Dann erzählt sie die alten Geschichten. Und singt die Lieder aus der Zeit, als der Kaiser noch über die Deutschen herrschte.

Nachtrag vom 3. März 2014: Anfang Januar hat Dyck einen Schlaganfall erlitten, erholte sich wieder und konnte ins Altenheim zurückkehren. Am 21. Februar 2014 ist sie gestorben. Gertrud Lina Luise Dyck wurde 105 Jahre alt.

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