200. Geburtstag von Abraham Lincoln:Die letzte, beste Hoffnung auf Erden

Nur über Jesus Christus wurde mehr geschrieben: Ist Abraham Lincoln, der Sklavenbefreier, ein würdiges Vorbild für Barack Obama?

Roman Deininger

Als Barack Obama vor zwei Jahren in Springfield, Illinois, seine Absicht verkündete, der 44. Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, tat er das ganz im Zeichen des Mannes, der ihm 1861 vom gleichen Ort ins höchste Amt vorausgegangen war. Er sprach vor dem Hauptportal jenes ehrwürdigen Parlamentsgebäudes, in dem Abraham Lincoln einst die über die Sklaverei gespaltene Nation gewarnt hatte, dass ein in sich geteiltes Haus nicht bestehen könne. Heute jährt sich der Geburtstag Abraham Lincolns zum 200.Mal.

Schauspieler John Wilkes Booth verübte ein Pistolenattentat auf den Präsidenten während einer Theatervorstellung. Abraham Lincoln erlag einen Tag später seinen Verletzungen.

Schauspieler John Wilkes Booth verübte ein Pistolenattentat auf den Präsidenten während einer Theatervorstellung. Abraham Lincoln erlag einen Tag später seinen Verletzungen.

(Foto: Foto: oh)

Den schweren Mantel der Geschichte, den sich Obama zu Beginn seiner Kampagne überwarf, hat er anscheinend mit Leichtigkeit bis nach Washington getragen. Er wehrte sich nicht gegen die biographischen Vergleiche, die das erlösungsbedürftige Amerika bald zog: Beide, Lincoln und Obama, wuchsen in einfachen Verhältnissen auf und wählten sich Illinois zur Heimat, beide arbeiteten als Anwälte, wurden gerühmt für ihre fulminante Redegabe und skeptisch beäugt wegen politischer Unerfahrenheit.

Beide gelangten in - wenngleich sehr verschiedenen - Krisen ins Amt. Immer wieder zitierte Obama im Wahlkampf den 16. Präsidenten, der diversen Umfragen und Ranglisten zufolge als Amerikas größter gilt, und nannte ihn seine "Inspiration".

Und er suchte den historischen Schulterschluss zu verbildlichen. Wie Lincoln reiste er mit dem Zug zur Amtseinführung nach Washington. Beim Amtseid legte er die linke Hand auf dieselbe in weinroten Samt gebundene Bibel, die vor 148 Jahren auch sein Vorbild berührt hatte. Sogar das Menü der Inaugurationsfeierlichkeiten wurde an Lincolns Lieblingsessen angelehnt, es gab geröstete Ente und süßen Kartoffelbrei.

Mit Hillary Clinton machte Obama seine schärfste Konkurrentin aus den Vorwahlen zur Außenministerin - und folgte damit Lincolns Beispiel, der William H. Seward auf ebendiese Weise eingebunden hatte; wie Clinton war Seward Senator für den Bundesstaat New York.

Nun ist es nicht überraschend, dass sich Präsidenten auf Lincoln und seinen wundersamen, gleichzeitig uramerikanischen Lebensweg berufen, der diesen aus einer fensterlosen Blockhütte an der Frontier in Kentucky (siehe Artikel unten) bis ins Weiße Haus führte, wo er zum zweiten Begründer der Republik wurde und, bei Kriegsende meuchlings ermordet, zu ihrem ersten Märtyrer. "Alle Präsidenten denken an Lincoln", schrieb der Historiker Douglas Brinkley, "denn egal, wie schwer sie es auch haben: Lincoln hatte es schwerer."

Ist das, was Obama nun inszeniert, auch Hybris? Oder doch Hommage? Mehr dazu auf der nächsten Seite.

Die letzte, beste Hoffnung auf Erden

Als erster schwarzer Präsident, das gestehen selbst Kritiker zu, hat er das Recht, sich auf den großen Emanzipator zu berufen, der mit seiner Proklamation zum 1. Januar 1863 verfügte, dass alle Sklaven - zunächst nur in den Rebellenstaaten - "fortan und für immer frei sein mögen". Aber hat Obama auch Grund, Lincolns Vermächtnis zu reklamieren?

Nicht wenige Stimmen sind derzeit zu hören, die ihm die Verklärung seines Idols vorwerfen. Sie argumentieren, dass Lincoln ein in seinen Ansichten typischer Weißer des 19. Jahrhunderts war, der nachweislich an einen "physischen Unterschied" zwischen den Rassen glaubte und echte Gleichheit deshalb für "unmöglich" hielt; dass er deshalb lange die Idee beförderte, die Sklaven nach ihrer Befreiung in Afrika anzusiedeln; und dass seine Emanzipationserklärung folglich nicht mehr gewesen sei als eine strategische Maßnahme mit dem Ziel, den aufständischen Süden zu destabilisieren und Europas Mächte für sich zu gewinnen.

Schon in den sechziger und siebziger Jahren vertrat man die These, dass die "Neugeburt der Freiheit", die Lincoln in seiner epochalen Rede auf dem Soldatenfriedhof von Gettysburg versprochen hatte, sich nie vollzogen und dass der Bürgerkrieg mit seinen 620.000 Toten an der Unterdrückung des schwarzen Mannes nichts geändert habe. Mit der Wahl Obamas belegen nun viele Verteidiger Lincolns, dass die Freiheit in Amerika tatsächlich neu geboren wurde.

Es ist also geboten, den 200. Geburtstag des "honest Abe", dessen Bescheidenheit zu seiner moralischen Autorität beitrug, im Spiegel der Aktualität zu betrachten. Die Einlassungen zum Thema sind im Jubiläumsjahr zahlreich. Abgesehen von Jesus Christus ist in den USA ohnehin über niemanden mehr geschrieben worden als über Lincoln.

2005 ergründete etwa Joshua Wolf Shenk Lincolns Schwanken zwischen Melancholie und Depression. An kruden Interpretationen fehlt es natürlich auch nicht: Lincoln, der Homosexuelle; Lincoln, der Feminist; Lincoln, der Vegetarier. In deutscher Sprache dagegen klaffte bisher eine große Lücke auf dem Buchmarkt, keines der Standardwerke des vergangenen Jahrzehnts wurde übersetzt. Pünktlich zum Geburtstag drängen nun aber gleich drei deutsche Autoren in diese Lücke.

Ronald D. Gerste, ein in Washington lebender Historiker und Journalist, schlägt in "Abraham Lincoln. Begründer des modernen Amerika", den unterhaltsamsten Ton an (Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2009. 272 Seiten, 26,90 Euro). Mal salopp, mal mit Mut - bisweilen auch Übermut - zum Pathos. In bester angelsächsischer Manier verdichtet Gerste die Zeitläufte in einer Person. Für eine erste Begegnung mit Lincoln ist Gerstes Werk gut geeignet; für ein differenzierteres Bild fehlt die Tiefe.

Eine nüchternere Herangehensweise wählt Georg Schild, der in Tübingen nordamerikanische Geschichte lehrt, in seinem Buch "Abraham Lincoln". Er wird seinem Untertitel "Eine politische Biografie" gerecht - es geht mehr um den geschichtlichen Hintergrund, ausführlich etwa um die Genese des Bürgerkriegs in allen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Facetten. Schilds Darstellung (Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009. 272 S., 24,90 Euro) ist klar und handwerklich präzise. Mancher mag sich freilich wundern, wie man eine mythenumtoste Geschichte so windstill referieren kann.

Lesen Sie mehr zu Lincoln im Lichte der aktuellen Forschung.

Die letzte, beste Hoffnung auf Erden

Der Dritte ist Jörg Nagler, Professor für nordamerikanische Geschichte in Jena. Er hat mit "Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident" das umfangreichste Porträt vorgelegt (Verlag C. H. Beck, München 2009. 464 S., 26,90 Euro). Eine solch breitgefächerte Untersuchung ist nötig, um die Gegensätze und Brüche in Lincolns Charakter zu erfassen: die Selbstzweifel und die erbitterte, bisweilen rücksichtslose Entschlossenheit, die Traurigkeit nach dem frühen Tod zweier Söhne und das unerschütterliche Vertrauen in die Güte des Menschen.

Diese enigmatische Gestalt verlangt nach einer Biographie, die sich auf Basis der Fakten auch in die verborgenen Gänge eines Lebenslaufs wagt. Jörg Nagler hat sie geschrieben. Sein Buch, flüssig zu lesen, ist das genaueste, gedankenreichste und ausgewogenste Porträt unter drei durchaus bemerkenswerten Neuerscheinungen.

In der zentralen Frage, wie hell die Lichtgestalt Lincoln angestrahlt werden soll, bemühen sich alle Autoren um Balance - Ronald Gerste entscheidet sich schnell für den großen Scheinwerfer. Aber auch er legt Lincolns rassistisch durchwirkte Vorurteile offen und betont die Dominanz der Staatsräson, die der Präsident in einem Brief an den Zeitungsherausgeber Horace Greeley bekräftigte: "Ich will die Union retten. (...) Wenn ich sie retten könnte, indem ich keinen Sklaven befreie, würde ich es tun, und wenn ich sie retten könnte, indem ich alle Sklaven befreie, würde ich es tun. Und wenn ich sie retten könnte, indem ich einige Sklaven befreie und andere nicht, würde ich es tun."

Diese Passage wird oft angeführt, seltener dagegen der Schlusssatz des Briefes. Er habe gemäß seiner offiziellen Pflicht zu handeln, schreibt Lincoln da, doch sein persönlicher Wunsch sei es, "dass alle Menschen überall frei sein mögen". Die Emanzipationserklärung war auch für Lincoln eine Befreiung, weil seine offizielle Pflicht, die Einheit des Landes zu bewahren, endlich mit seiner über Jahrzehnte immer wieder vorgetragenen Ablehnung der Sklaverei verschmolz.

Wie einige der Gründerväter, Sklavenhalter wie Washington oder Jefferson, war Lincoln wohl beides zugleich: ein Streiter für Freiheit und doch ein Kind seiner Zeit. Das Experiment der amerikanischen Demokratie, "der letzten, besten Hoffnung auf Erden", hat er vor dem Scheitern bewahrt und am Ende auch das Kainsmal der Sklaverei getilgt. Er mag die längste Zeit seines Lebens nicht an die Gleichheit der Rassen geglaubt haben, wohl aber an das Recht eines jeden Menschen auf das Streben nach Glück.

Ein feuriger Abolitionist hätte sein Werk nicht vollbringen können, es hat einen Lincoln in all seinen Widersprüchen gebraucht, der - das macht das Werk Jörg Naglers im Besonderen deutlich - in den Jahren seiner größten Prüfung über sich selbst hinauswuchs. Er war, in den Worten des militanten Bürgerrechtlers W. E. B. DuBois, "groß genug, um ungereimt zu sein".

In seinem Epilog zitiert Jörg Nagler Barack Obama. Der sagt, es seien genau Lincolns "Unvollkommenheiten" und die "schmerzhafte Selbsterkenntnis dieser Schwächen", die den Vorgänger für ihn "so unwiderstehlich" machten. Und spätestens da verfestigt sich beim Leser der Eindruck, dass Barack Obamas Berufung auf Lincoln wohl doch weniger Hybris ist als vielmehr berechtigte Hommage. 1876 hatte der Abolitionist Frederick Douglass bekundet, die Weißen seien die Kinder Lincolns, die Schwarzen "bestenfalls seine Stiefkinder".

Nun, zweihundert Jahre nach seiner Geburt, hat Barack Obama - wie vor ihm Martin Luther King - Abraham Lincoln als Vater anerkannt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: