Zoos:Tips und der Tod

Hybridbär

Vier Schüsse hallten im März durch den Zoo am Osnabrücker Schölerberg. Dann war Tips tot.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Sie dienen der Gesellschaft als lehrreiche Oasen einer anderen Welt - sind aber auch Schauplätze eines seltsamen Voyeurismus. Über die Frage, ob Zoos noch zeitgemäß sind.

Von Thomas Hahn

Die Sonne schien über Kajanaland, der Wald der Tiere lag im Licht des Frühlings. Aber Tips, die Bärin, war nervös. Sie war erst seit Kurzem aus der Winterruhe erwacht, noch etwas ausgezehrt und reizbar. Und als sie sah, dass sich drüben im Gras etwas bewegte, sprang sie, wie sie noch nie gesprungen war: durch den Elektrozaun, hinein in einen Teil des Geheges, in dem sie nicht sein sollte.

Sie schaute sich um. Sie wollte zurück in ihr Areal mit dem Wasserfall und Bruder Taps. Aber der Mut hatte sie verlassen, noch mal den Sprung durch den Elektrozaun zu wagen. Sie sah das schmale Schiebetor, durch das eigentlich nur die Silberfüchse aus dem Gemeinschaftsgehege passen sollten. Tips zwängte sich hindurch. Kurz darauf stand sie an einem Gittertor. Es war falsch montiert, sie drückte es auf. Sie war frei. Sie trottete an den Vielfraßen und an den Löwen vorbei. Sie nahm ein Bad im Klammeraffenteich. Sie trottete weiter. Sie sah das alarmierte Zoo-Personal. Sie machte sich zum Angriff bereit.

Dann hallten vier Schüsse durch den Zoo am Osnabrücker Schölerberg.

Der Tod der Bärin Tips im März erzählt vom Leben in den Tierparks zwischen Freizeitvergnügen und blutigem Ernst. 700 Einrichtungen gibt es in Deutschland, die sich nach dem Bundesnaturschutzgesetz "Zoologischer Garten" nennen dürfen. Im Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) sind 54 wissenschaftlich geleitete Zoos organisiert, auch der Zoo Osnabrück. Sie sind Forschungsstationen und zugleich beliebte Ausflugsziele für Familien, Schulklassen, Flaneure. Sie dienen der urbanen Gesellschaft als Oasen einer anderen Welt - aber sie sind auch Schauplätze eines seltsamen Voyeurismus, der alles sehen will, was die Erde zu zeigen hat - auch wenn es eigentlich nur ganz woanders vorkommt. In den Zoos bekommt der widersprüchliche Charakter des Menschen als Tierfreund und Nummer eins der Evolution eine eingezäunte Bühne.

Enge Käfige oder Betonareale verboten: Die Tierschutzgesetze sind strenger geworden

Für Michael Böer, den Direktor des Osnabrücker Zoos, ist seine Einrichtung "ein Fenster zur Natur". "Wir zeigen Tiere in Ökosystem-Ausschnitten und versuchen so zu vermitteln, dass es noch etwas anderes gibt als den Menschen und seine Städte." Böer sitzt in seinem Büro mit Blick in den Tierpark. Er ist ein bedächtiger Mann, und er weiß, dass in seiner Beschreibung das Dilemma der Zoos mitschwingt. Tips' Tod hat ja gezeigt, dass das auch schiefgehen kann. Und der Ausbruch, den der Zoo genau analysierte und erklärte, hätte noch schlimmer enden können. Er ereignete sich an einem Samstag, der Zoo war voll. Menschen hätten sterben können. Wenn man Tips nicht erschossen hätte.

Wie kann man die Wildnis für die Städter passend machen? Die Tierschutzgesetze sind strenger geworden mit der Zeit. Die Zoos reklamieren für sich, nach wissenschaftlicher Erkenntnis für bestmögliches Tierwohl zu sorgen. "Heute gestalten Zoos Gehege zunehmend naturnah, sodass die Tiere ihr artgemäßes Verhalten ausleben können", teilt der VdZ mit. Enge Käfige oder Betonareale sind verboten, Standard sind aufwendige Landschaftsattrappen mit Schlammlöchern, Felswänden, vielfältigen Böden. In Osnabrück wirken sie wie Filmkulissen, die Anmutungen von Nordamerika oder der Serengeti nach Niedersachsen versetzen und exotische Namen wie Kajanaland oder Takamanda tragen.

Geboten ist außerdem, die Sozialstrukturen der Herdentiere zu pflegen oder Gehege-Gesellschaften mit mehreren Tierarten zu bilden. Die Tiere dürfen sich nicht langweilen, das sieht die "Welfare-Strategie" des Welt-Zooverbandes vor. Zum Beispiel wird Futter rund um die Uhr so verteilt, dass die Tiere es suchen müssen. Ferngesteuerte Futterbehälter mit Zeitschalter helfen dabei. "Obwohl unsere Elefantenanlage nur ein paar Tausend Quadratmeter groß ist, gelingt es uns so, dass unsere Elefanten auf eine Tagesdistanz von 70 bis 75 Prozent der Strecke kommen, die sie in der Wildbahn zurücklegen", sagt Böer.

Er findet Zoos wichtig, natürlich. Polkappen schmelzen, Tropenwälder schwinden - im Zoo kämpfen Experten unabhängig von der schleichenden Naturkatastrophe gegen das Aussterben vieler Lebewesen. Ein verzweigtes Zuchtprogramm verbindet Europas Zoos. Viele Tierarten haben einen eigenen Koordinator, der darüber wacht, wann welches Tier wohin wechselt, um für Nachwuchs zu sorgen. Eine neue Generation von Zoo-Elefanten und Zoo-Sumatratigern dürfte demnach bald den Erhalt ihrer Spezies absichern. Böer sagt: "Zoos sind letzte Zufluchtsorte."

Peter Höffken, Fachreferent der Tierrechte-Organisation Peta, sagt dagegen: "Für uns gehören Zoos abgeschafft."

Die Debatte um die Zoos ist mal mehr mal weniger gegenwärtig. 2014 lebte sie etwa auf, als der Kopenhagener Zoo den gesunden jungen Giraffenbullen Marius tötete, am Kadaver eine Sektion veranstaltete und ihn den Löwen zum Fraß vorwarf. Für Zoodirektor Bengt Holst war das ein normaler Vorgang, um Inzucht vorzubeugen; analog zu den Härten der Wildnis, in der viele Tiere ihre Jugend auch nicht überleben. Für Höffken ist diese Episode das Symbol für die zynische Seite der Zucht.

Bei Höffken hat die Kritik an den Zoos immer Konjunktur. Er nennt sie "Tiergefängnisse" und "Entertainmentbetriebe". Pädagogische Leistungen spricht er ihnen ab, weil sie Tiere im unnatürlichen Lebensraum zeigen: "Zoos vermitteln Kindern ein falsches Bild." Höffken redet von unlauterem Tierhandel und Psychopharmaka, mit denen manche Zoos "die schlechten Haltungsbedingungen kompensieren" würden. Und erst vor wenigen Wochen hat die Tierschutzorganisation Peta Strafanzeige gegen den Zoo Hannover erstattet, weil dieser seine Elefanten misshandle. Die Anzeige beruht auf Filmaufnahmen, die Peta vorliegen und aus denen das ARD-Magazin "Report Mainz" Auszüge ausstrahlte. Die Aufnahmen zeigen Menschen, die die Tiere beim Dressurtraining mit Elefantenhaken bearbeiten. Das Verfahren schwebt, die Staatsanwaltschaft hat Gutachter bestellt, der Zoo öffentlich erklärt, dass Training auch aus medizinischen Gründen wichtig sei. Und Höffken schimpft. Die Gutachter, darunter Böer, seien befangen.

Böer hat eine professionelle Einstellung zu Peta. "Die Kritik von Peta kann uns weiterbringen", sagt er. Und auch Jürgen Güntherschulze will sich nicht ausführlich beschweren über Peta, als er in Lelkendorf durch seinen Zoo fährt, der ganz anders ist als der Zoo seines Kollegen Böer.

Das kann ein Tierpark also auch sein: ein Museum. Oder eine Hommage

Die Tiere, mit denen die Stadtzoos ihr Publikum locken, gibt es hier nicht. Keine Elefanten, keine Löwen, dafür seltene Pferde, Rinder, Ziegen, Schafe, Schweine. Güntherschulze, 68, ist der deutsche Pionier der Haustierparks, einer englischen Idee. 1989 hat er als Privatmann den ersten in Warder, Schleswig-Holstein, gebaut. Jetzt züchtet er hier in der Mecklenburgischen Schweiz alte Haus- und Nutztierrassen, welche die moderne Export-Landwirtschaft bedenkenlos aussterben ließe, weil sie für ihre Massenbetriebe andere Tier-Modelle braucht: Leistungsmilchkühe mit Rieseneutern oder Spitzenschlachtschweine mit zusätzlichen Rippenbögen. "Mich interessiert der Weg der Domestikation vom Wildtier über die ältesten Nutztierrassen bis hin zum heutigen Haustier", sagt Güntherschulze, als er seinen Wagen an Dänischen Glöckchenschweinen und Tadschikischen Wollziegen vorbeisteuert.

Peta vertritt einen veganen Lebensstil und findet es sinnlos, Tiere nutzbar zu machen. Für Güntherschulze sind die gefährdeten Rassen Zeitzeugen eines vergangenen Lebensstils. Robuste Fleisch- und Milchlieferanten waren das, die früher, als es noch keine Hightech-Ställe und Doping-Mast gab, angepasst waren an raues Wetter und dürre Steppen. "Ich dokumentiere das Bauernhofleben als eine Kulturleistung des Menschen", sagt er. Das kann ein Tierpark also auch sein: ein Museum. Eine Hommage. "Der Mensch hat den Nutztieren sehr viel zu verdanken."

Tips stand auch für etwas. Sie entstammte der ungewollten Liaison einer Braunbärin mit einem Eisbären. Sie wurde im Zoo gezeugt und geboren, sie war so etwas wie die charismatische Mahnung, dass es den Klimawandel wirklich gibt. Weil das Eis am Nordpol schmilzt, treffen in Kanada immer öfter Braunbären auf Eisbären. Hybridbären sind die Folge. Tips zog das Interesse der Forschung auf sich. Sie war eine Bärin mit Botschaft.

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