Zikaden:Die Invasion der liebeshungrigen Tölpel

Sie paaren sich mit Hingabe und überschwemmen die USA alle 17 Jahre - jetzt ist es mal wieder so weit: Die Zikade gibt keine Ruhe

Von Wolfgang Koydl

Washington, 20. Mai - Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Man muss nur sehen, was sie mit den Zikaden anstellen, die in diesem Jahr zu Abermilliarden über die amerikanische Ostküste hereingefallen sind. Derweil die Mädchen die hohlen Insektenpuppen von den Bäumen lesen und zu Halsketten im Horror-Look auffädeln, stopfen sich die Buben das geschlüpfte Endprodukt lebend in den Mund und würgen es tapfer hinunter. Für Mutproben bedurfte es schließlich noch nie besonders großer Intelligenz.

Frank Belosic freilich kann soviel kulinarische Neugier des Nachwuchses nur beneiden. Wenn es nach dem Küchenchef des Washingtoner Nobelrestaurants "Fahrenheit" gegangen wäre, dann hätten knusprige Zikaden in diesem Jahr auch bei ihm als Vorspeise auf der Speisenkarte gestanden: paniert, in Olivenöl frittiert und gereicht mit einer Soße aus Weißwein, Butter und Schalotten. Aber das Management hat die Idee zerquetscht wie ein lästiges Insekt, meint Belosic betrübt. "Sie wollten die Kundschaft nicht verschrecken."

Diesen Schrecken freilich erleben Millionen von Amerikanern zwischen New York und Georgia derzeit nicht im Restaurant, sondern vor der eigenen Haustür: Ob im Garten oder in der Garagenauffahrt - überall hocken, kriechen, zirpen, fliegen und hüpfen rotäugige Exemplare von Brut X der Gattung Magicicada septemdecem.

Sie sind die Tölpel des Insektenreiches: fliegen schlecht, kämpfen nicht, aber sie schmecken gut - und deshalb hat sich die Natur eine besondere Überlebensstrategie einfallen lassen: Sie produziert so viele Zikaden, bis sich selbst der hungrigste Feind an ihnen überfressen hat - und immer noch welche übrig bleiben, die den Fortbestand der Art sichern. Wie viele es sind? Etwa zehn Billionen, oder 1500 für jeden Erdbewohner, schätzt der Wissenschaftler Jeffrey Lockwood.

Propheten des Sommers

Nur Entomologen, wie Insektenkundler formell heißen, sind entzückt, kriecht diese Zikadenart doch nur alle 17 Jahre aus dem Boden ans Tageslicht, wo sie vier bis sechs Wochen lang von nichts anderem zu leben scheint als von der Luft und von der Liebe.

Die Säfte fließen mächtig, was bei einer siebzehnjährigen Abstinenz nicht weiter verwundert, und wer nicht gleich in einem Vogelschnabel oder Eichhörnchenmagen endet, paart sich mit Hingabe. Vorher freilich machen die Männchen - darin der Gattung Homo Sapiens nicht unähnlich - so lange Lärm, bis ein Weibchen mit dem Flügel winkt. Dann ist der Spuk auch schon vorbei. Die Larven vergraben sich im Erdreich und warten ihrerseits mehr als anderthalb Jahrzehnte auf ihren Auftritt.

"Charmante Propheten des Sommers" hat der griechische Dichter Anakreon die Zikade gerühmt, und Bob Dylan hat sie in seinem Lied "Day of the Locust" verewigt: "Yeah, die Heuschrecken sangen, und sie sangen für mich." Das war 1970, mithin vor zwei Zikaden-Zyklen, als Dylan in Princeton einen Ehrendoktor abholte und dabei Zeuge einer zirpenden Zikadeninvasion wurde. Unklar ist, ob der Sänger die Zikade zur Heuschrecke machte, weil sie ihm so besser ins Versmaß passte, oder weil er es nicht besser wusste.

Ältere Einheimische erinnern sich an frühere Heimsuchungen, aber in diesem Fall scheint der Rückblick die Ereignisse nicht zu verklären, sondern zu dramatisieren. Denn wenn man ihren Erzählungen glaubt, die von einer hyperventilierenden Presse getreulich wiedergegeben werden, dann würde dem Osten der Vereinigten Staaten eine biblische Plage drohen, die jedem Film von Roland Emmerich würdig wäre: Schwärme sirrender Zikaden, die die Sonne verdunkeln, Teppiche zuckender Zikadenleiber, die knöcheltief die Bürgersteige bedecken, Orchester schrillender Zikaden, die jeden Rasenmäher übertönen.

In manchen Teilen der Hauptstadt Washington und im Norden des Bundesstaats Virginia allerdings gibt es überraschende Inseln der Ruhe: Da müssen interessierte Naturfreunde sogar eigens Expeditionen organisieren, wenn sie eine Zikade sehen wollen.

In diesen Breiten ist es denn auch schwierig, die Zutaten für die Rezepte zu finden, die David Gordon in seinem Kochbuch für Insektengerichte zusammengetragen hat. Der Autor empfiehlt übrigens, für die nächsten 17 Jahre einen Vorrat an Zikaden anzulegen - in der Kühltruhe: "Es ist ein würdiger Tod. Die Tiere schlafen ein und spüren keinen Schmerz."

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