Zeitzonen:Wacht mal auf

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Auch die traditionelle Siesta wollen die Reformer abschaffen. Weil sie den Tag zu sehr auseinanderreißt: Müde Madrilenen im Einkaufszentrum. (Foto: Dominique Faget/AFP)

Die Spanier gelten als "müdestes Volk Europas", kritisieren Ärzte und Reformer. Nun soll eine Abkehr von der mitteleuropäischen Zeit die Wende bringen. Und was ist mit der traditionellen Siesta?

Von Thomas Urban, Madrid

Sonnenaufgang an diesem Montag in Madrid: 7.48 Uhr, kurz vor acht. Um halb neun oder um neun beginnen die Schulen, und in den Büros brummen zumindest schon die Kaffeemaschinen. Die Schüler und Angestellten müssen aufstehen, wenn es noch dunkel ist. Und sie noch hundemüde sind. "Die Metro morgens zwischen acht und neun ist ein fahrender Schlafsaal", stellt die Tageszeitung El País fest. In der Tat: Alle nicken vor sich hin, manche sind so schlapp, dass ihnen das i-Phone aus der Hand fällt. "Wir sind das müdeste Volk Europas", warnen immer wieder Ärzte in den Medien. Studien haben ergeben, dass die Spanier im Durchschnitt eine Stunde pro Tag zu wenig schlafen.

Das müsse anders werden, meinen nun auch die Politiker, die sich anschicken, nach den Parlamentswahlen im Dezember eine Regierung zu bilden. Die Sozialisten und die liberalen Ciudadanos (Bürger), eine hippe Aufsteigerpartei, haben es in ihren Koalitionsvertrag geschrieben und verkünden nun selbstbewusst: "Das Land kehrt zur Greenwich-Zeit zurück." Damit die Spanier endlich mehr Schlaf finden, gesünder und nicht zuletzt auch leistungsfähiger werden. Vor zwei Generationen, noch unter dem Diktator Franco, haben die Spanier die mitteleuropäische Zeit (MEZ) eingeführt. Sie sind seitdem der westliche Vorposten der großen MEZ-Zone, die von der polnischen Ostgrenze zur spanischen Atlantikküste reicht.

Der Haken: Die MEZ passt zwar den Deutschen bestens; der Sonnenaufgang an diesem Montag etwa in München ist mit 6.54 Uhr angegeben, also fast eine Stunde vor Madrid. Die meisten Deutschen frühstücken also schon bei Tageslicht. Doch was die Spanier angeht, so sind die Wissenschaftler der renommierten IESE Business Hochschule in Madrid zu einem klaren Bild gekommen: "Unser Tagesablauf steht nicht im Einklang mit dem menschlichen Biorhythmus." Denn der richtet sich nach dem Sonnenlicht. Mit anderen Worten: "Wenn es morgens dunkel ist, will und soll der Mensch noch schlafen."

"Wir gehören in dieselbe Zeitzone wie Briten, Iren oder Portugiesen!"

Die Greenwich-Zeit, benannt nach der Sternwarte im gleichnamigen Stadtteil Londons, durch die der Nullmeridian verläuft, stößt bei vielen Unternehmern auf wenig Gegenliebe; sie argumentieren, dass der europäische Binnenhandel einfacher abgewickelt wird, wenn alle nach derselben Uhr ticken. Die Befürworter der Zeitumstellung, die sich in der "Vereinigung für eine Rationalisierung der Tagesabläufe" (ARHOE) zusammengeschlossen haben, sind ganz anderer Ansicht: Madrid liegt auf einem Längengrad rund 200 Kilometer westlich von London, ist aber um eine Stunde voraus. Die ARHOE-Aktivisten verkünden daher seit vielen Jahren: "Wir gehören in dieselbe Zeitzone wie Briten, Iren und Portugiesen!"

Auch Ärzte meinen das. Denn die Spanier sind nach medizinischen Studien nicht nur das müdeste, sondern auch das ungesündeste Volk Europas. Zumindest kann die Pharmaindustrie bei ihnen den höchsten Medikamentenverbrauch pro Kopf verbuchen, auch an Schlafmitteln. Denn weil die Sonne so spät untergeht - an der Atlantikküste im Sommer gegen 22 Uhr -, wird auch viel zu spät das Abendessen eingenommen, fängt auch viel zu spät das Hauptfernsehprogramm an, inklusive der Fußballspiele zweimal pro Woche. Erst nach Mitternacht hört der Tag für die meisten auf, Geist und Körper kommen viel zu spät zur Ruhe.

Zu der Vernachlässigung des Biorhythmus kommt noch die Siesta, die Zeit für den Mittagsschlaf. Die große Pause der arbeitenden Bevölkerung zwischen 14 und 17 Uhr ist zwar seit drei Jahren keine Pflicht mehr und im Zeitalter der Klimaanlagen in den Büros und Geschäften immer mehr auf dem Rückzug. Doch viele Firmen halten sie noch ein. Dies bedeutet, dass ein beträchtlicher Teil der berufstätigen Eltern erst nach 21 Uhr nach Hause kommt.

Das Motto lautet also: zurück zur Sonne - und weniger Siesta. Denn die große Hitze, bei der man ein Nickerchen machen will, herrscht ja in Zentral- und Nordspanien nur ein Vierteljahr. Die meiste Zeit des Jahres ist das Klima gemäßigt, im Winter ist es sogar rau. Die Kritiker argumentieren: "Die Siesta reißt den Tag auseinander, sie ist schlecht für das Familienleben!" Die Traditionalisten, die sie um jeden Preis verteidigen wollen, scheinen seit Langem auf verlorenem Posten zu stehen, ebenso wie die Befürworter der MEZ. Bei den Zeitreformern rechnet man dagegen vor: Aufstehen bei Sonnenaufgang, Abendessen eine Stunde eher, und wenn Siesta, dann nur kurz - in der Summe hätten die Spanier dann eine Stunde Schlaf mehr und viele Millionen zufriedenere Menschen.

© SZ vom 29.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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