Zehn Jahre Prostitutionsgesetz:Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit

"Frei von Zwang ist letztlich keine": Mit dem 2002 in Kraft getretenen Prostitutionsgesetz wollte die damalige Bundesregierung die Situation der Frauen im Rotlichtmilieu verbessern. Das angeblich älteste Gewerbe der Welt sollte raus aus der rechtlichen Grauzone und rein in die Sozialversicherung. Doch viele Hoffnungen wurden enttäuscht.

Ronen Steinke und Katja Riedel

Niemand zwingt sie, außer dem Leben selbst. Die Mutter, die eine Krebstherapie braucht, der Sohn, der eine vernünftige Schule besuchen soll. Um das nötige Geld nach Hause zu bringen, wird sie auch an diesem Abend ihre hohen grünen Stiefel anziehen. Dann, wenn der Kleine in seinem Bett ganz regelmäßig atmet. Sie wird sich davonstehlen aus ihrer Wohnung in Polen, gen Westen fahren, nach Berlin. In der Dämmerung wird sie zurück sein, der Sohn braucht sein Frühstück.

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Nur Frauen, die einem bestimmten Schönheits- und Altersideal entsprechen, kommen in einem der Bordelle in der Hauptstadt unter. Der größere Teil der Berliner Prostituierten muss seinen Lebensunterhalt auf dem Straßenstrich verdienen.

(Foto: dpa)

In Berlin kennt man sie und ihre grünen Stiefel: auf der Kurfürstenstraße, dem billigsten Strich der Stadt. Ihre Geschichte und ihren Namen aber kennt nur Angelika Müller, 53, die hier seit 15 Jahren als Krankenschwester in der Hilfseinrichtung "Frauentreff Olga" arbeitet.

Ökonomische Notwendigkeiten zwingen Frauen auf die Straße

Hinter der rußigen Häuserfassade im ersten Stock erzählt Müller an diesem Tag von den Frauen, die ganz unten stehen, im Leben wie in der Hierarchie des Rotlichts. Hier prostituiert sich das Elend, hier tragen die Frauen keine einheitlichen Moonboots wie in der Oranienburger Straße, sondern Brandlöcher und Laufmaschen, und darunter verbergen sich bei den meisten der gut 220 Frauen blaue Flecken. Male, die kein Freier sieht, dem eine von ihnen in einer dunklen Ecke die schnelle Befriedigung verschafft. Male, die nur Angelika Müller sieht.

Zwangsprostitution allerdings - das sei ein großes Wort, findet die Krankenschwester, es täusche klare Grenzen vor, wo keine seien. Am Beispiel der Frau mit den grünen Stiefeln könne man das sehen: Nicht nur die rohe Gewalt von Männern, auch ökonomische Notwendigkeiten zwingen Frauen auf die Straße. Eine krebskranke Mutter, ein Sohn, der es mal besser haben soll. Drogen, Schulden. "Frei von Zwang", sagt Angelika Müller, "ist letztlich keine hier."

Vor zehn Jahren hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das die Karten neu mischen sollte: Das Prostitutionsgesetz, in Kraft getreten am 1. Januar 2002, gab den Frauen erstmals einen Anspruch auf ihren Lohn, den sie vor Gericht einklagen können. Es sollte die Rechte der Frauen stärken, nicht aber die der Zuhälter. Und doch sollten diese erstmals legal Bordelle führen können und so für bessere Arbeitsbedingungen sorgen.

Das angeblich älteste Gewerbe der Welt sollte raus aus der rechtlichen Grauzone und rein in die Sozialversicherung. Man darf nach zehn Jahren sagen, dass viele Hoffnungen enttäuscht wurden.

Eine fließende Halbwelt

Wenn das Prostitutionsgesetz ein Experiment war, dann ist Berlin, die Stadt mit einem Dutzend Straßenstrichen, das perfekte Versuchslabor: Das Rotlichtgeschäft haben hier nicht ein paar wenige Kiezgrößen in ihren festen Händen wie in Hamburg oder ein paar alteingesessene Dynastien wie in Frankfurt.

Die Prostitution ist in Berlin nie in einen Sperrbezirk gepresst worden, sie ist verstreut geblieben, kleinteilig, und das heißt auch: immer in Bewegung. Eine Drei-Zimmer-Wohnung irgendwo in einem Hochhaus, eine Hotline und eine Anzeige in der Boulevardzeitung dazu - schnell ist das aufgemacht, schnell wieder geschlossen.

Es ist eine fließende Halbwelt, der Schriftsteller Thomas Brussig hat sie vor vier Jahren als "Berliner Orgie" porträtiert. Er protokollierte, wie die etwa 6000 bis 8000 Prostituierten Berlins in ungezählten Mini-Etablissements leben. Die meisten dieser kleinen Clubs hat der Markt längst wieder verschluckt und neu ausgespuckt, sagt die Berliner Soziologin Christiane Howe, die das Rotlichtmilieu systematisch untersucht. Nirgends in Deutschland reagiere die Rotlichtbranche derart schnell auf Veränderungen.

Dennoch: Die Hoffnung des Gesetzgebers, möglichst viele Prostituierte würden durch das Prostitutionsgesetz ordentliche Arbeitsverträge bekommen und in die Sozialkassen einzahlen, hat sich in Berlin kaum erfüllt, wie andernorts auch. Das hat das Familienministerium inzwischen selbst eingeräumt. Zahlen liefert das Ministerium nicht, nur eine Beobachtung: Die Prostituierten wollen sich nicht fest binden. Lieber sind sie Tagelöhnerinnen geblieben. Auch auf eine Rentenversicherung verzichten fast alle.

Wer hält sich gerne mit Formularen und Steuern auf?

An der Kurfürstenstraße hört die Krankenschwester Angelika Müller so manche Frau sogar über neue Lasten klagen, die das Gesetz gebracht habe. Wer hält sich schon gerne mit Formularen und Steuern auf? Früher hätten die Behörden immerhin weggeschaut, früher konnten die Frauen im Verborgenen bleiben. Heute fürchten sie, amtlich abgestempelt zu werden, als Prostituierte registriert, vielleicht dauerhaft.

Die Polin mit den grünen Stiefeln gibt bei Behörden nie ihre eigene Adresse an, sie holt ihre Briefe lieber bei Freunden ab, damit ihre Familie nicht über verräterische Post aus Deutschland stolpert. Leichter, so vermutet Angelika Müller, ist ihr Leben eher nicht geworden.

Seriöse Investoren melden Interesse an

Dass sich gar nichts aufgehellt hätte in der schummrigen Rotlichtwelt Berlins, kann man freilich nicht sagen: Eine ganze Welle neuer Geschäftsleute, so hört man, ist in den Markt eingestiegen, seit es grundsätzlich legal ist, einen "bordellartigen Betrieb" zu führen. Früher regierten hier Männer aus der Halbwelt bis hinauf in die Edelprostitution, das Geschäft konnte man ja nur mit einem Bein im Gefängnis betreiben. Heute melden auch seriösere Investoren Interesse an den hohen Gewinnspannen an.

Neue Gesichter - das sei vielleicht die wichtigste Veränderung, sagt auch die Ex-Prostituierte Stephanie Klee. Diese neuen Gesichter kämen oft aus legalen Branchen, würden sich mit Steuern auskennen, ein vernünftiges Verhältnis zur Berliner Gewerbeaufsicht unterhalten - und sich nun erstmals trauen, Prostituierten ein Angebot zu machen.

Einer von ihnen heißt Carlos Obers. Obers war einer der erfolgreichsten Werber im Land, zeitweise auch Präsident des renommierten Art Directors Club Deutschland, bis er 2006 eine Agentur für Edel-Call-Girls gründete, mit dem Fantasienamen "Greta Brentano". "In der Werbebranche heißt es eh: Wir sind alle Huren", sagt Obers, der glatte Rollkragenpullover betont, dass der Oberkörper auch mit 71 Jahren noch trainiert wird. Obers war dreimal verheiratet, er macht keinen Hehl daraus, dass er sich für Prostitution schon länger interessiert.

Man kann Obers, der in seiner Atelierwohnung Pralinen reicht, lange dabei zuhören, wie er das Neue an seinem Konzept unterstreicht. Die "Musen", die nicht etwa Natasha heißen, sondern, für den Feingeist, Sharon Novalis oder Ariane Maybach. Die "Unternehmensphilosophie", die Worte wie Polyamorie beinhaltet und für die Obers tatsächlich Simone de Beauvoir bemüht. Man kann hören, wie Obers versichert, dass seine Call-Girls ausnahmslos finanziell unabhängige Akademikerinnen seien. Und man kann das am Ende alles für die schöne neue Verpackung eines gar nicht so neuen Geschäftsmodells halten.

Doch die neuen Arbeitgeber - so erzählen es in Berlin zumindest Anwältinnen, Soziologinnen, Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen - bringen neue, angenehmere Umgangsformen in die Branche. Und dies nicht nur an der Spitze, wo Obers' Edelmusen 1800 Euro pro Nacht verdienen.

Jeder Besucher bekommt einen Apfel

Kerstin Berghäuser, 47, arbeitete früher selbst in Bordellen, heute lässt sie für sich arbeiten: in ihrem kleinen Bordell "Liberty" im Stadtteil Schöneberg. Liberty heißt Freiheit, und befreit hat der Club sie tatsächlich: von den finanziellen Sorgen, von einem Schuldenberg, der sie vor zwanzig Jahren nach Berlin zwang, ins Rotlichtgeschäft. 2007 hat sie ihr Bordell gegründet, 15 Zimmer auf zwei Etagen, jedes in einem anderen Stil, blaues, goldenes, Spiegelzimmer. Früher, als Bordelle noch illegal waren, stellten die Zuhälter den Frauen nicht einmal einen Aufenthaltsraum zur Verfügung, die Staatsanwaltschaft hätte es für "Förderung der Prostitution" halten können.

Heute öffnet Berghäusers Bordell morgens und schließt am Abend. Das Arbeiten dazwischen beschreibt die Chefin als "Direktgeschäft": Das Anbandeln mit betrunkenen Nachtclubbesuchern bleibt den Frauen erspart, Alkohol gibt es überhaupt nicht, dafür bekommt jeder Besucher einen Apfel geschenkt.

Den Frauen auf der Kurfürstenstraße hilft es freilich nur wenig, wenn Kerstin Berghäuser gute Arbeitsbedingungen schafft. Auch die polnische Frau mit den grünen Stiefeln hat nicht mehr Chancen als früher: Nur wenige, die sich prostituieren, entsprechen dem Schönheits- und Altersideal, das im Warmen und Trockenen verlangt wird.

Der Suchtdruck, die Schuldenberge, die Verzweiflung, welche die Frauen auf die Straße zwingt - dies alles konnte ein Gesetz nicht beseitigen, das lediglich die Prostitution ein wenig verträglicher regelt.

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