Zehn Jahre nach dem Amoklauf in Erfurt:Was seit dem Schulmassaker anders ist

16 Menschen tötete der Schütze am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bevor er sich selbst richtete. Nur 20 Minuten dauerte der Amoklauf, doch die Bluttat vor genau zehn Jahren wirkt bis heute nach. Was hat sich seitdem verändert: an den Schulen, im Waffenrecht - und in der Diskussion um sogenannte Killerspiele? Ein Überblick.

Johanna Bruckner

Dass ein junger Mensch schwerbewaffnet in eine Schule marschiert und um sich schießt - bis zum 26. April 2002 schien das in Deutschland undenkbar. Derartige Amokläufe kannte man nur aus den fernen USA. Doch an jenem Freitagvormittag, kurz vor der großen Pause, betritt Robert S. das Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Der 19-jährige Ex-Schüler hat einen Rucksack und eine Sporttasche bei sich, darin: ein schwarzer Kampfanzug, eine schwarze Sturmmaske - und ein kleines Waffenarsenal. Auf der Jungentoilette wechselt er seine Kleidung und geht los, bewaffnet mit einer Pistole und einer Pumpgun. 16 Menschen - zwei Schüler, zwölf Lehrer, eine Sekretärin und ein Polizist - sterben in den darauffolgenden 20 Minuten durch die Hand des Jugendlichen. Am Ende richtet sich Robert S. selbst.

Die Bluttat schockiert ganz Deutschland. Der Treppenaufgang zum Gutenberg-Gymnasium verschwindet in den Tagen danach unter einem Blumenteppich. Bundesweit wird in allen Schulen eine Gedenkminute abgehalten. Doch in die Trauer drängen sich Fragen: Was treibt einen jungen Menschen zu einer solchen Wahnsinnstat? Ist Mobbing möglicherweise ein Motiv? Wurde der 19-Jährige nach seinem Schulverweis im Herbst 2001 mit seinen Problemen alleingelassen? Wie kann es sein, dass ein Jugendlicher so leicht und legal an Waffen kommt? Sind Ego-Shooter-Computerspiele, die Robert S. exzessiv nutzte, möglicherweise mitverantwortlich für seinen Gewaltausbruch? Und nicht zuletzt: Müssen Schulen vor dem Hintergrund einer solchen Bluttat besser geschützt werden?

Auch zehn Jahre danach sind nicht alle diese Fragen ausreichend beantwortet: Was sich nach dem Amoklauf in Erfurt getan hat und wo nach wie vor Handlungsbedarf besteht - ein Überblick.

Die Killerspiel-Debatte

Ego-Shooter sind nach der Bluttat von Erfurt hierzulande in die Kritik geraten: Bei Computerspielen wie Counter-Strike ist der Spieler agierender Protagonist und muss sich durch eine dreidimensionale Welt schießen. Gegner sind computergesteuerte Akteure oder - bei Online-Games - andere Spieler. Bereits nach dem Massaker an der Columbine High School 1999 in den USA waren Ego-Shooter in Verruf geraten. Die beiden Schüler, die dort das Attentat verübten, sollen wie Robert S. das Töten zunächst virtuell geübt haben.

Schulmassaker am Gutenberg-Gymnasium vor zehn Jahren

Hilferuf auf einem Blatt Papier: 16 Menschen erschoss ein 19-Jähriger am 26. April 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium - es war der erste Amoklauf dieser Art an einer deutschen Schule.

(Foto: dpa)

Auch wenn es nur theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von gewalthaltigen Computerspielen und Amokläufen gibt: Einhellige Expertenmeinung ist laut Ingrid Möller von der Universität Potsdam, dass kein Teenager allein aufgrund der Nutzung von Ego-Shootern zum Mörder wird. Bei dieser Entwicklung spielten vor allem andere Faktoren eine Rolle. Die Computerspiele würden von Gewalttätern vielmehr gezielt zur Vorbereitung genutzt, sagt die Sozialwissenschaftlerin, das zeige auch der Fall des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik.

In Studien konnte demnach festgestellt werden, dass das Gros der Jugendlichen gewalthaltige Computerspiele aus ganz anderen Gründen nutzt. Die zumeist männlichen Teenager suchen Spannung und Aufregung. Daneben spielen soziale Motive eine Rolle: Man will in der Clique mitreden und mithalten können. Auch zur Emotionsregulierung werden die Ego-Shooter eingesetzt. Die Jugendlichen versprechen sich Möller zufolge eine "Katharsis-Wirkung" - sie spielen, um sich abzuregen und zu entspannen. Experimentalstudien hätten jedoch gezeigt, dass sich das Erregungsniveau der Spieler tatsächlich erst einmal erhöhe.

"Der 'Mythos Killerspiel' ist das eigentliche Problem"

Während dieses Forschungsergebnis unstrittig scheint, wird die Frage, ob der intensive Konsum von gewalthaltigen Computerspielen langfristig zu vermehrt gewalttätigen Verhaltensweisen führt, kontrovers diskutiert. Zwar gibt es Möller zufolge Studien, die einen entsprechenden Kausalzusammenhang belegen, Martin Geisler vom Erfurter Institut für Computerspiele "Spawnpoint" hält diese Ergebnisse jedoch für überholt.

"Eine Übernahme fiktiver Verhaltensweisen in die Realität findet so definitiv nicht statt", sagt der Medienpädagoge. Das von ihm mitbegründete Institut versucht zwischen Gamern und Nicht-Gamern (allen voran: Eltern und Lehrern) zu vermitteln. "Der 'Mythos Killerspiel' ist das eigentliche Problem", sagt Geisler, "nicht irgendwelche Suchtproblematiken."

In Computerspielen wie Counter-Strike bringt das Ausschalten von Gegnern Punkte, erhöht die eigenen Siegchancen - und erfüllt somit einen strategischen Zweck, erklärt Medienpädagoge Geisler. Auf Tagungen und Elternabenden versucht "Spawnpoint" Erziehungspersonen bewusst zu machen, dass Gewalt und Tod in der virtuellen Welt anders belegt sind als in der wirklichen. Die jungen Gamer lernen in Projekten, wie Gewalt und Tod in der Realität wirken können.

Prävention und Intervention an Schulen

CeBIT 2008

Sogenannte Ego-Shooter gerieten nach dem Amoklauf in Erfurt in die Kritik. Experten sind sich jedoch einig: Der Konsum von gewalthaltigen Computerspielen allein begünstigt noch keinen derartigen Gewaltexzess.

(Foto: dpa)

Vergessen werden sie das Erlebte wohl nie. Doch zehn Jahre nach der Bluttat am Gutenberg-Gymnasium haben die meisten Überlebenden gelernt, mit den schrecklichen Erinnerungen umzugehen. Sechs Augenzeugen befinden sich zehn Jahre nach dem Amoklauf noch in Therapie.

Psychologische Betreuungsangebote gibt es mittlerweile jedoch nicht nur in Erfurt. Bundesweit wurden verstärkt Schulpsychologen eingesetzt und Vertrauenslehrer ausgebildet: Sie sollen Schüler, aber auch Lehrer und Eltern in Problem- und Konfliktsituationen unterstützen - und helfen, künftige Verzweiflungstaten zu verhindern. Wie engmaschig dieses Betreuungsnetz ist, unterscheidet sich jedoch von Bundesland zu Bundesland.

Weiterhin besteht dringender Handlungsbedarf

Thüringen hat die Zahl der Schulpsychologen jüngst noch einmal aufgestockt, von 17 auf 32, und liegt damit nach Aussage von Ministeriumssprecher Gerd Schwinger bundesweit im vorderen Bereich. Die Schulpsychologen sind dort präventiv tätig und bilden beispielsweise an den Schulen Vertrauenslehrer aus. Außerdem werden sie auch bei konkreten Notfällen aktiv, als Teil eines Kriseninterventionsteams, das dem Kultusministerium untergeordnet ist. Wann immer heute an einer thüringischen Schule ein Notfall eintritt, können die Experten Schwinger zufolge in kürzester Zeit vor Ort sein.

In Thüringen liegt seit der Bluttat von Erfurt in jeder Schule "ein dicker Notfallordner", so Schwenger, der minutiöse Handlungsanweisungen gibt: Welche Stellen müssen kontaktiert werden? Wie werden Lehrer und gegebenenfalls Schüler über die Gefahrensituation informiert? Welche Türen müssen geschlossen werden? Für die Umsetzung sind festgelegte Notfallteams, bestehend aus dem Schulleiter und ausgewählten Lehrern, zuständig. Noch gibt es jedoch nicht in jeder thüringischen Schule ein technisches Alarmsystem - und auch in anderen Bundesländern besteht noch Handlungsbedarf.

So sind nach einer Umfrage von NDR Info viele Schulen in Norddeutschland noch immer nicht ausreichend auf Taten wie in Erfurt oder Winnenden vorbereitet. Lücken gebe es vor allem bei der Einrichtung von Krisenteams, der technischen Ausstattung der Schulen - wie etwa Lautsprechersystemen für Notfalldurchsagen - und Notfallplänen, berichtet der Sender. Dabei besteht durchaus dringender Bedarf: Etwa 170 Mal habe es nach Angaben der Innenministerien im vergangenen Jahr Amokalarm an einer Schule in Norddeutschland gegeben - also fast an jedem Schultag.

Nach dem Schulmassaker von Erfurt hat sich auch die Arbeit der Polizei verändert. Gab es bis dahin die Regelung, dass bei einem möglichen Amoklauf das Eintreffen von Spezialeinsatzkräften abgewartet werden soll, sind Streifenbeamte mittlerweile verpflichtet, in das Gebäude zu gehen: "Um keine weitere wichtige Zeit zu verlieren", wie es von der Polizei heißt.

Verschärfungen des Waffenrechts

GEDENKEN NACH TOD DURCH HUNDEATTACKE

Bundesweit wurden nach dem 26. April 2002 vermehrt Schulpsychologen eingesetzt und Vertrauenslehrer ausgebildet. Die Hilfsangebote richten sich jedoch nicht nur an Schüler, sondern auch an Lehrer und Eltern.

(Foto: dpa)

Am Tag des Amoklaufs in Erfurt beriet der Bundestag über eine Novelle des Waffenrechts. Nach der Tat gerieten die bisherigen Bestimmungen in die Kritik - Rufe nach strengeren Regelungen wurden laut. Der Gesetzgeber reagierte und verschärfte das Waffenrecht, und noch einmal 2009, nach dem Massaker an der Albertville-Realschule und in der Umgebung von Winnenden mit 15 Opfern des sich später selbst tötenden Tim K. Die wichtigsten Änderungen im Überblick:

2002

[] Eine medizinisch-psychologische Untersuchung für angehende Schützen unter 25 Jahren wird verpflichtend eingeführt.

[] Die Altersgrenze für den Kauf und Besitz von Schusswaffen bei Sportschützen steigt von 18 auf 21, bei Jägern von 16 auf 18 Jahren.

[] Schießsportordnungen von Verbänden müssen behördlich genehmigt werden.

2009

[] Die Überprüfungsmöglichkeiten für das sogenannte waffenrechtliche Bedürfnis werden verschärft. (Wer in Deutschland eine Waffenbesitzkarte erwerben will, muss begründen, wozu er eine Waffe braucht, zum Beispiel zur Jagdausübung oder als Sportschütze.)

[] Schießen mit großkalibrigen Waffen ist erst ab 18 Jahren möglich.

[] Die Möglichkeiten zur Kontrolle der Waffenaufbewahrung werden ausgeweitet: Nun sind auch verdachtsunabhängige Kontrollen möglich, jedoch darf eine Wohnung nicht ohne Zustimmung des Waffenbesitzers betreten werden.

Derzeit berät der Bundestag über ein zentrales, nationales Waffenregister, mit dem eine entsprechende Forderung der EU umgesetzt werden soll. Das Bundesinnenministerium rechnet damit, dass die Regelung im Sommer beschlossen wird und Ende des Jahres in Kraft tritt. Das Register soll die Daten der etwa 600 kommunalen Waffenbehörden in einer zentralen Datenbank zusammenfassen.

Zwar würdigte Gisela Mayer, Sprecherin des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden, die bisherigen Bemühungen: "Es hat sich vieles getan seit Erfurt", sagte sie der Mitteldeutschen Zeitung, "doch es ist ein langer Weg." Kritik übte die Mutter einer Referendarin, die bei dem dortigen Schulmassaker getötet wurde, vor allem an den noch immer mangelhaften Regelungen zur Aufbewahrung von Waffen. Die Aufbewahrung müsse zudem effektiv kontrolliert werden. Nötig seien "Gesetze der höchstmöglichen Sicherheit", sagte Mayer.

(Mit Material der Nachrichtenagenturen)

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