Die Sache ist mysteriös. Wo kommen sie her? Und wie? Und warum sind sie da, wo es sie hier doch gar nicht geben dürfte? "Ich will da nicht spekulieren. Persönliche Meinungen gibt es an jedem Biertresen, dafür wir sind eine Insel", sagt Raimund Neumann vom Ordnungsamt auf Amrum und klingt dabei mal missmutig, mal schelmisch. Überhaupt: Er sei nicht zuständig, sondern die untere Jagdbehörde in Husum.
Amrum gefällt sich als Insel der Weite und der Freiheit. In der Selbstdarstellung heißt es: "Großartige Dünenlandschaften türmen sich bis zu 32 Meter auf und wollen durchwandert werden. Leuchtende Wanderdünen stoßen in der Inselmitte auf dunkle Wald- und Heideflächen." In letzter Zeit allerdings entwickelte sich bis dato unbekanntes Leben im Inselforst. Gesichtet wurden: Rehe. Mitten in der Nordsee.
Meldungen über die Rehe unbekannter Herkunft gab es auf der Insel erstmals Anfang November. Damals warnte die Amtsverwaltung vor einer "neuen Gefahr für die Autofahrer", die auf Amrums Straßen nun mit Wildwechsel zu rechnen hätten. Damit haben die Insulaner schlechte Erfahrungen: Mitte der Achtzigerjahre hatte es schon mal einen Rehbock auf das Eiland verschlagen. Er wurde, wie tragisch, überfahren. Andere Tiere seien von frei laufenden Hunden gerissen worden, heißt es. Schönes Amrum.
Über die Zahl der aktuellen Nordsee-Bambis herrscht Ungewissheit. Augenzeugen sprechen von fünf Tieren, offizielle Stellen von vier. Niemand aber hat jemals mehr als ein Tier auf einmal gesehen. Ein Reh soll inzwischen verhungert sein. Manchmal streunt eines durch einen Garten oder durch die Fußgängerzone von Norddorf. "Es ist kalt, und sie haben Hunger", sagt Raimund Neumann vom Ortsamt.
Das Problem ist: Rehe gehören nicht nach Amrum. Enten schon, Möwen auch. Aber keine Rehe, trotz des Waldes in der Inselmitte. Der ist vom Orkan Anatol 1999 arg mitgenommen worden und muss vom Amrumer Forstbetriebsverband mühsam wieder aufgeforstet werden. Blieben die Rehe auf Amrum, müssten die Jungpflanzen mit Zäunen vor ihnen geschützt werden. Das würde aber rund 20000 Euro kosten.
Außerdem: Niemand weiß, ob zu den Rehen auch ein Rehbock gehört. Dann würden die Herde sehr rasch größer und mit ihr die Gefahr für Autofahrer. Der Wald reicht bis an die Landesstraße heran, die Hauptverkehrsader Amrums.
Manche sagen, die Tiere seien übers Watt gewandert und kämen von der Nachbarinsel Föhr. Dort ist, wie auf der Insel Sylt auch, Wild schon seit geraumer Zeit heimisch. Andere glauben, ein Unbekannter habe die Rehe aus einem Gehege herbeigeschafft. Da allerdings bliebe das Motiv offen - sofern man den Insulanern nicht unterstellen will, dass sie das Märchen von den Amrumer Bambis selbst inszeniert haben, um das Weihnachtsgeschäft mit den Touristen anzukurbeln.
Tatsächlich hatte Amrum deshalb eine Menge Publicity kurz vor der Hauptreisezeit. Das Deutsche Tierhilfswerk startete eine Aktion gegen den zwischenzeitlich von der Husumer Jagdbehörde verfügten Abschuss der Tiere. Darüber wurde bundesweit ebenso berichtet wie über die folgende Aufhebung des Beschlusses zur Tötung der Rehe.
Tierschützer haben nun bis zum 15. Januar Zeit, das zahme Wild einzufangen und von der Insel zu schaffen - nur, wenn das nicht gelingen sollte, würden Jäger vom Festland kommen und ihr blutiges Werk verrichten. Sogar die ARD war mit Kamerateam da (und hat kein einziges Reh filmen können), im Internet gibt es ein eigenes Forum zu den Amrumer Rehen. Das Tierhilfswerk startete eine Unterschriftenaktion für den Verbleib der Rehe auf der Insel.
Geschadet hat die tierische Weihnachtsgeschichte dem Fremdenverkehr jedenfalls nicht. Die Amrumer Gastbetriebe freuten sich über einen Ansturm von Kurzurlaubern, deretwegen die Wyker Dampfschiff-Reederei mit ihren Fähren Extraschichten schob. Das illegal eingewanderte Rehwild verhielt sich dem Vernehmen nach wie immer sehr unauffällig.