Wiederaufnahme-Verfahren:Unrechtssicherheit

Mordfall Frederike

Hans von Möhlmann mit einem Foto seiner 1981 ermordeten Tochter im Jahr 2015.

(Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa)

Ist ein Angeklagter rechtskräftig freigesprochen, sind neue Beweise und eindeutige DNA-Spuren kein Grund, den Fall wieder aufzurollen. Für die Angehörigen schwer erträglich.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Justiz korrigiert sich ungern. Ist erst einmal ein rechtskräftiges Urteil in der Welt, steht es da wie ein Monu-ment steingewordener Wahrheit. Das Recht, ein Wiederaufnahmeverfahren zu beantragen, gleicht eher einem Abwehr-bollwerk der Justiz denn einem willkom-menen Mechanismus zur Fehlerkorrektur.

Aber immerhin: Es kann gelingen. Wer neue Beweise seiner Unschuld vorlegen kann, wer gute Anwälte hat, einen langen Atem und dazu eine gehörige Portion Glück, der kann einen fehlerhaften Schuldspruch aus der Welt schaffen.

Mancher Justizirrtum bleibt aber nahezu unverrückbar - dazu gehört der falsche Freispruch. Ist ein Angeklagter rechtskräf-tig freigesprochen, dann kann er sich praktisch nur noch selbst mit einem Geständnis ins Gefängnis bringen. Neue Beweise, erdrückende Indizien, eindeutige DNA-Spuren? Nach deutschem Recht kein Grund, den Fall neu aufzurollen.

Hans von Möhlmann hat Mitte Juli eine Petition ins Netz gestellt, um das zu ändern. Es ist ein Appell an Bundesjustizminister Heiko Maas, der inzwischen 33 500 Unterstützer gefunden hat, Tendenz rasch steigend. "Die Ungerechtigkeit ist eine offene Wunde, die andauert", schreibt er. Überschrift: "Gerechtigkeit für meine ermordete Tochter Frederike."

Frederike war 17 Jahre alt, als sie in der Nacht vom 4. November 1981 von der Chorprobe die paar Kilometer von Celle nach Hambühren nach Hause trampen wollte. Vier Tage später wurde ihre Leiche im Wald gefunden, grauenvoll zugerichtet. Messerstiche am ganzen Körper, die Kehle durchgeschnitten; sie war vergewaltigt worden, bevor der Mörder zustach. Der Verdacht fiel damals auf einen Arbeiter, der aus der Türkei stammte und erst seit drei Jahren in Deutschland lebte. Reifenspuren, die auf einen BMW 1602 hindeuteten, brachten die Polizei auf seine Spur - er fuhr denselben Typ. Und es fanden sich Faserspuren an der Kleidung Frederikes, die wahrscheinlich aus dem Wagen des Verdächtigen stammten. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn im Juli 1982 zu lebenslanger Haft.

Dann nahm der Fall seine erste Kehrtwendung. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf, und in einem zweiten Prozess sprach das Landgericht Stade den Mann frei. Die Beweise genügten den Richtern nicht. Und Hans von Möhlmann reagierte, wie nur wenige Väter in seiner Situation reagiert hätten. Er akzeptierte die Zweifel des Gerichts: "Ich war überzeugt, dass ein anderer meine Tochter getötet hat", sagte er dem Spiegel, der den Fall öffentlich ge-macht hat.

30 Jahre sollten vergehen, bis Hans von Möhlmann erfuhr: Das Gericht hat sich, kaum ein Zweifel ist möglich, geirrt. Auf Drängen des Vaters waren mit Unterstützung des niedersächsischen Innenministeriums die Spuren des Verbrechens noch einmal mit modernster Kriminaltechnik untersucht worden. Man hatte an einer Binde des Opfers sekretähnliche Spuren gefunden. Sie entsprechen dem DNA-Muster des Mannes, der freigesprochen wurde.

Späte Gerechtigkeit, endlich? Paragraf 362 Strafprozessordnung sagt dazu: Eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten ist wegen unechter Urkunden, falscher Zeugenaussagen oder einer Amtspflichtverletzung des Richters möglich - oder wenn der Freigesprochene ein "glaubwürdiges Geständnis" abgelegt hat. Neue Tatsachen oder bessere Analysemethoden sind dagegen kein Grund. Die Suche nach Wahrheit ist mit dem Freispruch zu Ende, man nennt das "Rechtssicherheit". Das neue DNA-Gutachten ist wertlos.

Möhlmanns Anwalt Wolfram Schädler versucht nun, wegen des Verbrechens, das seinen Mandanten damals aus der Bahn geworfen hatte, auf Schmerzensgeld zu klagen, um Bewegung in die Sache zu bringen. Aber die Chancen stehen schlecht, die Forderung ist wohl verjährt. Nun muss man einräumen: Der uralte Rechtsgrundsatz, um den es hier geht, hat eine wichtige Funktion im Prozessrecht. "Ne bis in idem" sagen Juristen dazu: "Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden", so steht es auch in Artikel 103 Grundgesetz. Und schon zu Zeiten des Reichsgerichts war klar, dass das Gesetz damit auch bei Freispruch eine Sperre errichtet: "Es kennt nicht den Vorbehalt einer neuen Anklage", wegen ein und derselben Tat komme nur entweder eine Verurteilung oder ein Freispruch infrage, urteilte das Gericht im Jahr 1880. Der Zweck ist einleuchtend, damals wie heute: Dem Staatsanwalt, der mit seiner Anklage nicht durchgekommen ist, soll ein zweiter Versuch verwehrt bleiben. Zum Schutz der Betroffenen.

Das Mädchen war 17 Jahre alt, als sie nach der Chorprobe nach Hause trampen wollte

Aber das Grundgesetz lässt Spielraum. Eine Weiterentwicklung des "Ne bis in idem"-Grundsatzes sei nicht ausgeschlossen, "Grenzkorrekturen" seien möglich, befand 1981 das Bundesverfassungsgericht. Und im 7. Zusatzprotokoll (von Deutschland unterschrieben, wenn auch nicht ratifiziert) zur Europäischen Menschenrechtskonvention steht, eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen sei zulässig.

Nordrhein-Westfallen und Hamburg hatten vor fünf Jahren eine Reform versucht. Auslöser war ein Mordfall in Düsseldorf: Ein Mann hatte eine Videothek überfallen, eine Mitarbeiterin gefesselt und anschließend mit einer Tüte über dem Kopf erstickt. Wegen der dünnen Beweislage wurde er freigesprochen, doch 2004 hätte er anhand von Hautpartikeln, die man am Tatort gefunden hatte, per DNA-Gutachten als wahrscheinlicher Täter überführt werden können - wäre da nicht der rechtskräftige Freispruch. Die beiden Länder wollten daher bei Mordfällen eine Wiederaufnahme ermöglichen, wenn "aufgrund einer neuen wissenschaftlich anerkannten Untersuchungsmethode Beweismittel gewonnen werden" - doch die Bundesratsinitiative versandete. Seither herrscht Stille. Andere Staaten sind da weiter. Norwegen, Finnland, Schweden, England und Österreich erlauben eine Wiederaufnahme zulasten des Freigesprochenen, wenn nachträglich neue Tatsachen oder Beweise auftauchen; auch Bulgarien, Rumänien und Russland kennen solche Regelungen.

Gewiss, bei einer Reform des Gesetzes wäre Vorsicht geboten. DNA-Gutachten liefern immer nur einen Mosaikstein in der Beweisführung, mag es oft auch der ent-scheidende sein. Sie können belegen, dass der Verdächtige am Tatort war, nicht aber, was er dort getan hat. Hinzu kommt: Je feiner die Analysetechnik wird, desto größer ist die Gefahr, dass beispielsweise winzige Hautschuppen entdeckt werden, die an den Tatort "verschleppt" worden sind - von jemandem, der mit dem Verdächtigen zuvor Kontakt hatte. Man muss sich vor allzu großer Technikgläubigkeit hüten.

Andererseits wird seit Jahrzehnten die Stellung der Opfer im Strafverfahren aus-gebaut. Ihre Beteiligungsrechte im Prozess wurden gestärkt, die Nebenklage wurde aufgewertet, die Einschaltung von Opferanwälten erleichtert. Kurzum: Das Opfer ist längst nicht mehr nur unbeteiligter Zuschauer im Prozess, das bestenfalls als Zeuge gebraucht wird, sondern ein Teilnehmer mit einem legitimen Interesse am Strafverfahren. Also daran, dass das Verbrechen gesühnt wird.

Rechtssicherheit? Der mutmaßliche Mörder sei auf freiem Fuß, sagt Möhlmann: "Das ist unerträglich für mich."

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