Wenn Dämme brechen:In New Orleans kollabiert Amerikas Zivilgesellschaft

Im Falle einer Flut haben die südamerikanischen Feuerameisen, die sich in den letzten hundert Jahren auch über den Süden der USA verbreitet haben, die Methode entwickelt, sich zu Tausenden zu einem lebenden Ball zu verklumpen, der auf dem Wasser treibt, bis er an ein festes Hindernis stößt. Dann verteilen sich die Ameisen in Windeseile über den Festkörper und wenn es sich dabei auch noch um ein Säugetier oder gar einen Menschen handelt, beginnt das große Fressen.

Andrian Kreye

Wer sich nun bis zum Hals in den Fluten durch das Überschwemmungsgebiet kämpft, tut also gut daran, den gut golfballgroßen Klumpen wimmelnder Insekten aus dem Weg zu gehen. Was nicht ganz einfach ist, denn in der Senke von New Orleans treiben derzeit nicht nur Ameisen im Wasser, sondern auch Tote, Tierkadaver, der Inhalt der gesamten Stadtkanalisation sowie Schutt und Müll in den Fluten.

Wenn Dämme brechen: Hunderte Menschen sind im Astrodome in Houston untergebracht

Hunderte Menschen sind im Astrodome in Houston untergebracht

(Foto: Foto: dpa)

Einer der Geretteten, die sich derzeit im Astrodome von Houston darauf vorbereiten, mindestens bis Dezember, wahrscheinlich aber auch länger in Flüchtlingslagern zu hausen, wurde bei der Beschreibung, wie er sich mit seiner Familie durch die verseuchten Fluten kämpfte und auf unbeschreibliche Dinge stieß, immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt.

Das Grauen von New Orleans ist nur schwer zu vermitteln. Kein Fernsehbild kann wiedergeben, was es bedeutet, wenn ein Wirbelsturm über Stunden hinweg die Zerstörungskraft mehrerer Atombomben über einem Landstrich freisetzt. Die Bilder der überschwemmten Stadt wirken fast friedlich und verschweigen, dass sich längst der Geruch der Fäulnis und des Todes über New Orleans gelegt hat.

Erinnerung an Horrorfilm

Die Szenen aus dem Convention Center, in dem 25.000 Menschen vom Verdursten bedroht sind, erinnern vielleicht an einen Zombiefilm von George A. Romero, doch den realen Horror kann man kaum nachvollziehen.

Niemand kann die Angst vermitteln, die sich wie eine Schockwelle durch das überfüllte Sportstadion Superdome ausbreitet, als das Gerücht die Runde macht, die Fluten würden nun noch einmal um mehrere Meter steigen, und die Regierung habe beschlossen, die Flüchtlinge einfach absaufen zu lassen. Und man kann es ihnen nicht verdenken.

In New Orleans kollabiert Amerikas Zivilgesellschaft

In New Orleans ist die Zivilgesellschaft, deren oberste Aufgabe der Schutz der eigenen Bürger sein sollte, innerhalb von Stunden zusammengebrochen. Eine weltfremde Bundesregierung, der die Sicherung der Benzinversorgung wichtiger ist als das Leben von ein paar zehntausend Flutopfern, verstärkt mit ihrer Untätigkeit das Gefühl der Hilflosigkeit ins Unermessliche.

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Eine Mutter wartet mit ihren Kindern darauf, in Sicherheit gebracht zu werden

(Foto: Foto: dpa)

Bye, bye, Arme und Schwache

Es mag eine Binsenweisheit sein, dass sich die Stärken und Schwächen der Menschheit in Momenten der Krise zeigen. Doch was die Flut von New Orleans derzeit ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit spült, ist mehr als nur eine Katastrophe.

Die Folgen für die Gesellschaft sind noch nicht abzusehen. Und es ist ja nicht das erste Mal, dass sich in einer Katastrophe die Schwächen der amerikanischen Gesellschaft manifestieren. Es ist nicht einmal das erste Mal, dass eine Flutkatastrophe den so oft bejubelten multikulturellen Konsens der Stadt New Orleans zerstört. Denn eines sieht jeder, der die Fernsehbilder verfolgt - die Opfer sind fast ausnahmslos arm und schwarz.

"Oh all das Weinen und Beten wird dir nicht helfen", heißt es in dem Song "When The Levee Breaks", den die Bluesgitarristin Memphis Minnie 1929 aufgenommen hat, "Wenn der Deich bricht, wirst du alles verlieren." Zwei Jahre zuvor war der Mississippi über seine Ufer getreten und hatte auch New Orleans überflutet. Die Schwarzen der Stadt wurden damals zusammengetrieben und während der Wasserspiegel stieg, hinderten bewaffnete Truppen die Eingepferchten, zu fliehen.

Der Historiker John M. Barry beschreibt in seinem Buch "The Rising Tide", dass die Kapelle eines Dampfschiffes beim Ablegen höhnisch "Bye Bye Blackbird" spielte. Auch die Flut von 1927 war aufgrund von Gier und menschlichem Versagen zur Katastrophe geworden, schreibt Barry. Zu viele Dämme im Oberland des Mississippi hatten zu einem instabilen Flusssystem geführt. Detailliert beschreibt Barry, wie die Flut von 1927 die gesamte amerikanische Gesellschaft veränderte. Mehr als tausend Menschen starben.

In New Orleans kollabiert Amerikas Zivilgesellschaft

Fast 300.000 Schwarze wurden gezwungen, in unzureichend versorgten Flüchtlingslagern zu hausen. Das führte zunächst zu Rassenunruhen, dann beschleunigten die Flutfolgen die massenhafte Abwanderung der Schwarzen in den Norden, die Machtmonopole der weißen Großgrund- und Plantagenbesitzer fielen und das beherzte Eingreifen der Bundesregierung gab eine erste Ahnung von den umwälzenden sozialen Veränderungen des New Deal.

Weiße plündern nicht

Die Parallelen zur momentanen Krise sind ganz offensichtlich. Wieder waren es menschliches Versagen und Gier, die zur Flutkatastrophe geführt haben. Das örtliche Army Corps of Engineers hat die Behörden seit Jahren gewarnt, dass die Deiche um New Orleans nur unzureichenden Schutz vor Überflutung bieten.

Sebastian Junger, Autor des Tatsachenromans "The Perfect Storm", berichtete im Wall Street Journal schon vor fünf Jahren, dass die Dämme einem Hurrikan nicht standhalten können. Doch anstatt die notwendigen Renovierungsmaßnahmen einzuleiten, wurden die Mittel für den Schutz der Golfregion von der Bundesregierung während der letzten Jahre rigoros gekürzt. Erst Anfang des Jahres hatte Washington 71 Millionen Dollar Mittel für Schutzmaßnahmen im Hurrikangebiet gestrichen.

Doch die politische Dynamik ist diesmal genau umgekehrt. War es damals die von rassistischen Interessensgruppen bestimmte Lokalregierung, die Rettungsmaßnahmen für die verarmten Schwarzen torpedierte, und eine beherzte Bundesregierung, die zur Hilfe kam, sind es diesmal hoffnungslos überforderte städtische und regionale Behörden, die versuchen zu retten, was zu retten ist, während eine lethargische Bundesregierung nur schleppend reagiert und mit ihren Rufen nach Ordnung und Sicherheit den Eindruck erweckt, den Opfern den Krieg erklärt zu haben.

Der rassistische Unterton dieser Haltung schlägt sich inzwischen schon in der Berichterstattung nieder. Wenn Schwarze sich in ihrer Not mit Lebensmitteln aus verwaisten Geschäften versorgen, nennen die Nachrichtenagenturen das Plündern. Wenn Weiße dies tun, heißt es, sie versorgen sich mit dem Lebensnotwendigen.

Und wieder hat es eine verarmte schwarze Unterschicht getroffen, die trotz ausreichender Vorwarnung nicht die Möglichkeit hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Wieder haben die Behörden Zehntausende Schwarze in Behelfslagern zusammengepfercht, währen zahlungskräftige Hotelgäste schon vor Tagen in klimatisierten Komfortbussen evakuiert wurden.

Es bleibt abzuwarten, wie die amerikanische Wählerschaft auf das Versagen in New Orleans reagiert. Die Flut von 1927 war ein entscheidender Faktor, dass Huey Long 1928 die Wahl zum Gouverneur von Louisiana und Herbert Hoover 1929 die Wahl zum Präsidenten gewannen. Auf diese Weise kamen zwei hartnäckige Kämpfer gegen die Armut ins Amt.

Ob das derzeitige Versagen der Bundesregierung zu politischen Veränderungen führt, ist noch schwer abzuschätzen. Natürlich stellt sich auch die Frage, ob die Folgen des Hurrikans "Katrina" in den USA nicht endlich die lang überfällige Diskussion über die Ursachen und Folgen der Klimaveränderungen auslösen. Bisher gibt es kaum Stimmen, die auf solche Zusammenhänge hinweisen.

Lediglich Robert Kennedy Junior, Umweltanwalt und Neffe von John F. Kennedy, prangerte in einem Leitartikel für das Online-Magazin Huffington Post die Regierung an, das Kyotoprotokoll systematisch zu torpedieren. Die Reaktionen darauf waren einmütig - hier wolle die Linke ihre Positionen auf Kosten der Opfer von New Orleans durchdrücken. In New Orleans hat sich gezeigt, dass das geheiligte amerikanische Prinzip der Eigenverantwortung im Moment der Krise innerhalb von Stunden an seine Grenzen stößt. Bis zur Diskussion einer globalen Verantwortung für die Zukunft des Planeten ist da noch ein weiter Weg.

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