Wenn Rosanna Della Corte von ihrem Sohn spricht, dann nennt sie ihn den "kleinen Riccardo", obwohl er inzwischen 20 Jahre alt ist. Denn es gab schon einmal einen Sohn mit diesem Namen im Leben Della Cortes. Ihren "großen Riccardo" verlor die Italienerin durch einen tragischen Verkehrsunfall.
Um den Verlust zu überwinden, musste der kleine Riccardo her. Mit aller Macht. Alle Möglichkeiten der modernen Medizin nutzte Della Corte. Als sie ihr Baby 1994 schließlich zur Welt brachte, war sie 63 Jahre alt - bis dahin die älteste Frau, die ein Baby bekommen hat.
Das Erschreckende ist weniger das mögliche Leid der Kinder
Seither haben es ihr Frauen weltweit nachgetan. So mächtig ist die Reproduktionsmedizin heute geworden, dass sie auf Verlangen Leben schafft, wo bisher der Tod näher zu sein schien. Nun steht in Berlin ein neuer Rekord bevor: Im Sommer wird dort, wenn alles nach Plan verläuft, die Lehrerin Annegret Raunigk im Alter von 65 Jahren Vierlinge gebären.
Die öffentliche Empörung ist groß, seit RTL und Bild am Sonntag den Fall bekannt gemacht haben. Selbst Fortpflanzungsmediziner sprechen von einer "absoluten Katastrophe", nennen Raunigks Schwangerschaft ein "Experiment am Leben". Kann man bei einer so alten Frau wie Raunigk - die noch dazu alleinerziehend und bereits Mutter von 13 Kindern zwischen neun und 44 Jahren ist - überhaupt von guter Hoffnung sprechen?
Es erscheint verantwortungslos, dass eine Frau kurz vor dem Beginn ihres Pensionärslebens Vierlinge aufziehen will. Kinder, die sie nie in ihrem Leib tragen würde, wenn sie nicht hiesige Gesetze gleich mehrmals überschritten hätte. Nicht nur die Gesundheit der Ungeborenen steht auf dem Spiel, auch die der Mutter, die doch auch noch die Verantwortung für ihre anderen Kinder trägt.
Doch das Erschreckende an dieser Geschichte aus Berlin ist weniger das Leid, das den Kindern womöglich bevorsteht. Wer betagten Frauen das Recht auf Kinder abspricht, begibt sich auf dünnes Eis. Eine Gefahr für die Gesundheit bringen auch andere Schwangerschaften mit sich: Dürfen kranke oder behinderte Menschen oder solche mit ungünstigen Erbanlagen dann auch keine Kinder mehr bekommen? Und ist nicht das Leben, das einem Kind geschenkt wird, das sonst gar nicht geboren wäre, schon ein Wert an sich?
Schärfere Gesetze helfen wenig
Kinder halten viel aus. Sie gedeihen auch unter den merkwürdigen Bedingungen, die die moderne Fortpflanzungsmedizin bietet: in der Obhut von Omas, die oft mit großer Gelassenheit und Erfahrung agieren, ebenso wie bei schwulen Eltern, die sich Schwangerschafts- und Gebär-Dienstleistungen bei sogenannten Leihmüttern erkaufen.
Das Erschreckende an Geschichten wie denen von Rosanna Della Corte und Annegret Raunigk ist, dass sie die immer größere Anspruchshaltung verdeutlichen, mit der Menschen dem Leben begegnen. Alles muss perfekt sein, wie im Kino. Schicksalsschläge haben nach dieser Vorstellung nur ihren Sinn, wenn sie am Ende in noch größerem Glück münden. Krankheit, Unvollkommenheit, Macken an Körper oder Karriere - sie gilt es zu überwinden.
Auch Ärzte sind gefordert
Die Sehnsucht nach einem Kind wider die Natur, die rastlose Suche nach einer Lösung für alle möglichen medizinischen Probleme und körperlichen Unstimmigkeiten, selbst wenn diese Lösung am Ende noch so aufreibend und ethisch fragwürdig ist, darin besteht die eigentliche Tragik.
Grenzüberschreitungen wird es in Gesellschaften immer geben. Es hilft aber wenig, immer schärfere Gesetze dagegen zu erlassen, die dann doch, wie auch bei Annegret Raunigk, im Ausland übertreten werden. Wichtig ist ein gesellschaftlicher Diskurs, das Entwickeln einer Haltung, die Sehnsüchten, Schmerz und Leid einen Platz bietet. Loszulassen und sich den Realitäten zu stellen kann eine wunderbare, erleichternde Option sein.
Davon wissen auch Paare zu berichten, die nach zermürbenden Versuchen der künstlichen Fortpflanzung aufgegeben und ihrem Leben ohne Kinder eine neue Wendung gegeben haben, oder Kranke, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben, statt unermüdlich alle Optionen auszuloten, und seien sie noch so unseriös.
Es gilt, diese Menschen nicht allein zu lassen, ihnen Perspektiven und Teilhabe zu ermöglichen. Auch Ärzte sind gefordert, die Möglichkeit des Nichts-Tuns in Gesprächen mit ihren Patienten offen zu benennen, statt alles medizinisch Mögliche und immer neue, mitunter zweifelhafte Techniken anzubieten, an denen sie verdienen. Mütter sollten nicht überhöht, Kinderlose nicht bemitleidet werden.
Machbar ist vieles. Und es wird längst viel zu viel gemacht. Dabei ist es doch die Grundlage der Zufriedenheit, auch im Unerfüllten Erfüllung zu finden.