Video von Pfefferspray-Einsatz:Wenn Polizeigewalt wie Notwehr aussieht

  • Nach einer Verkehrskontrolle im westfälischen Herford, die in einer gewaltsamen Auseinandersetzung endete, müssen ein Autofahrer und sein Cousin vor Gericht. Ein Video, das dort abgespielt wird, zeigt aber, dass der Angriff wohl vom Polizisten ausging.
  • Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Polizisten und seine Kollegen. Sie hat den Verdacht, dass die Akte zu dem Fall "frisiert" worden ist.
  • Die Staatsanwaltschaft hatte das Video zwar vorliegen, es aber vor dem Prozess nicht angesehen. Sie verließ sich auf die Polizei.

Von Jannis Brühl, Köln

Eine Verkehrskontrolle eskaliert

Ein Polizist, der grundlos zuschlägt. Ankläger, die ein wichtiges Beweismittel ignorieren. Und ein Prozess, der niemals hätte stattfinden sollen. In Westfalen erschüttert eine Affäre das Verhältnis von Staatsanwaltschaft, Polizei und Bürgern.

Es geht um eine Verkehrskontrolle, die am 17. Juni 2014 in Herford eskalierte. Der 39-jährige Hüseyin E. wird angehalten, weil er am Steuer telefoniert. Er macht einen Alkoholtest, der negativ ausfällt. Ob E. und sein Cousin, der zur Kontrolle dazustößt, die Polizisten beleidigen oder provozieren, ist unklar. Jedenfalls kommt es zu einem Gewaltausbruch. Der ebenfalls 39 Jahre alte Polizist schlägt zu und setzt Pfefferspray ein - aus Notwehr, wie er später sagt. Nach dem Gerangel zeigt er E. an und will Schmerzensgeld. Auch E. zeigt den Polizisten an.

Erst einmal landen aber nur E. und sein Cousin vor Gericht, wegen Körperverletzung und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte. Doch in der Verhandlung in dieser Woche nimmt der Fall eine überraschende Wendung. Die Polizei hat der Staatsanwaltschaft eine Reihe Standbilder aus der Videokamera übergeben, die den Fall aus dem Streifenwagen heraus filmte - und das gesamte Video. Die Staatsanwältin hat sich vor der Verhandlung nur die Standbilder angesehen. Und die suggerieren, dass die Aggression vom Kontrollierten E. ausgeht. Doch als vor Gericht das ganze Video gezeigt wird, stellt die Richterin fest, dass das Gegenteil der Fall ist: Ohne ersichtlichen Grund greift der Polizist E. an, tritt ihm mit dem Knie zwischen die Beine und sprüht Pfefferspray auf ihn.

"Skandal auf zwei Ebenen"

E's Verteidiger Detlev Binder sagt, er habe das Passwort für die verschlüsselte DVD erst am Morgen des Gerichtstermins bekommen. Er spricht von einem "Skandal auf zwei Ebenen": "Ein Exzess eines einzelnen Polizisten, der einen Bürger angreift. Und, viel gravierender: Was ist mit der Polizei Herford los?" Mehrere Beamte hätten mitgeholfen, das Opfer als Täter darzustellen.

Für die Strafverfolger hat sich nun jedenfalls ein komplett neuer Fall ergeben. Es geht nicht mehr um Widerstand gegen die Polizei, sondern um Polizeigewalt. Die beiden Angeklagten werden freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen den Polizisten wieder aufgenommen. Die Herforder Polizei bestätigt, dass er vorerst keine Streife mehr fährt.

Zwar dürfen Beamte Gewalt anwenden, etwa wenn sich jemand gegen polizeiliche Maßnahmen wehrt. Auf dem Video wirkt der Gewalteinsatz aus Sicht der Beobachter vor Gericht aber völlig unverhältnismäßig. Vor Gericht entschuldigt sich der Polizist, nachdem das Video gezeigt worden ist.

Wählten Polizisten bewusst suggestive Screenshots aus?

Die Frage ist nun: War die Akte frisiert oder nicht? Entweder die ermittelnden Polizisten aus Herford - Kollegen des Beschuldigten - haben das Videomaterial so geschnitten, dass dieser als Opfer erschien. Oder sie haben sich korrekt verhalten und die Staatsanwaltschaft hat einfach verschlafen, das Video zu sichten.

Der Bielefelder Staatsanwalt Christoph Mackel ermittelt nicht nur gegen den tretenden Polizisten. Er will auch herausfinden, welche Kollegen am Ort der Kontrolle den Beamten gedeckt haben könnten, indem sie seine Version des Geschehens stützen. Zudem prüft er, ob die Standbilder bewusst so ausgewählt wurden, dass E. wie der Angreifer wirkte: "Warum sind nicht Screenshots aller relevanter Szenen gemacht worden?" Es gehe um mögliche Strafvereitelung oder gar "Verfolgung Unschuldiger".

Auch die Staatsanwaltschaft sieht schlecht aus

Unabhängig von möglichen Kungeleien der Polizisten sieht auch die Staatsanwaltschaft schlecht aus. Auch wenn es die Staatsanwaltschaft in solchen kleinen Verfahren gewohnt ist, den Unterlagen zu vertrauen, die ihnen die Polizei übergibt: Eine DVD mit dem Video war Teil der Akte, die Mackels Behörde vorlag. Seine Kollegin habe sich dennoch nur auf die von der Polizei ausgewählten Standbilder verlassen: "Das ist so Übung", sagt Mackel. Es fehlten schlicht die Kapazitäten, alle Videos zu sichten, die in Verfahren eingingen. Überwachung von Fan-Krawallen, Kinderpornografie, Bürger, die ihre Stalker filmten - immer mehr Filmmaterial laufe bei den Staatsanwälten auf. Mackel gibt zu, dass das Verfahren gegen E. und seinen Cousin wohl nie stattgefunden hätte, wenn seine Kollegin das Video gesichtet hätte.

Wenn Polizisten gegen Kollegen ermitteln

Erst nach dem Verfahren am Montag, als die Staatsanwaltschaft Bielefeld Verdacht gegen mehrere Polizisten aus Herford schöpft, entzieht das nordrhein-westfälische Innenministerium den Fall dem Herforder Präsidium und übergibt ihn an das Polizeipräsidium Bielefeld. "Um jeden Anschein der Befangenheit zu vermeiden", sagt ein Sprecher des Ministeriums. Bis dahin hat nur die Herforder Polizei selbst mit dem Fall zu tun gehabt - und gegen den eigenen Beamten ermittelt. Denn in Nordrhein-Westfalen ist immer erst einmal das betroffene Präsidium selbst zuständig, wenn ein Polizist angezeigt wird. Weder gibt es im Bundesland eine unabhängige Stelle für interne Ermittlungen, noch einen Automatismus, dass solche Ermittlungen von Anfang an von anderen Präsidien geführt werden.

Kriminologen und die Opposition fordern seit längerem, Ermittlungen gegen Polizisten von Anfang an von anderen Präsidien oder unabhängigen Stellen führen zu lassen, etwa einem Ombudsmann oder dem LKA. Erst vor kurzem wurde die Frage nach einem Polizeieinsatz in Gelsenkirchen diskutiert: Ein Beamter hatte einen Brandstifter mit einem Faustschlag niedergestreckt, der Mann starb einige Tage später an dem dadurch ausgelösten Sturz. Kurzzeitig ermittelte eine Abteilung des Präsidiums, in der der Vater eines der am Einsatz beteiligten Polizisten saß.

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