Offene Fragen an Pistorius:Der einzige Zeuge

War es wirklich Notwehr? Wie war die Beziehung zu Reeva Steenkamp? Seit Montag äußert sich Oscar Pistorius erstmals selbst zum Tod seiner Freundin, die er erschossen hat. Es gibt etliche Fragen, die nur er beantworten kann.

Von Lena Jakat

Am 14. Februar 2013 durchdringen vier Kugeln eine Toilettentür in Südafrika. Sie treffen Reeva Steenkamp in Hüfte, Arm und Kopf. Wenig später ist die 30-Jährige tot. Geschossen hat Oscar Pistorius, beidseitig beinamputierter Athlet und nationale Ikone. So viel ist unbestritten. Was genau geschah, und warum es geschah, versucht seit 3. März der High Court in Pretoria zu klären. Unter dem Vorsitz von Richterin Thokozile Masipa wird Pistorius dort der Prozess gemacht. Nachdem in den ersten Wochen des Prozesses 20 der 107 auf der Liste der Staatsanwaltschaft aufgeführten Zeugen ausgesagt haben (einen kompletten Überblick finden Sie hier), sagt der Angeklagte nun erstmals selbst zu den Vorwürfen aus. Seit Montag muss er sich schwierigen Fragen stellen. Die zentralen ungeklärten Punkte im Überblick.

War es Absicht?

Pistorius ist des Mordes angeklagt - ihm wird vorgeworfen Steenkamp "absichtlich" getötet zu haben. Südafrika hat mit massiven Kriminalitätsproblemen zu kämpfen, viele Menschen haben zur Selbstverteidigung eine Waffe im Haus. Doch auch wenn Pistorius tatsächlich glaubte, hinter der Toilettentür habe sich ein Einbrecher verschanzt, auch wenn er keine Prothesen trug und sich deswegen besonders verletzlich fühlte: Kann man von Notwehr sprechen? Als Pistorius bei Waffenhändler Sean Rens Waffen bestellte, musste er ein Formular ausfüllen. Auf die Frage nach den rechtlichen Voraussetzungen für privaten Schusswaffengebrauch antwortete Pistorius laut Rens' Aussage korrekt: "Der Angriff muss gegen dich gerichtet sein, er muss gegen das Gesetz verstoßen, sich gegen Personen richten." Doch der vermeintliche Einbrecher hatte sich in der Toilette verschanzt, er griff nicht an.

Wie war Pistorius' Beziehung zu Reeva Steenkamp?

Drei Monate vor Steenkamps Tod hatte sich das Paar erstmals gemeinsam in der Öffentlichkeit gezeigt. Bis zu jenem Valentinstag 2013 gab es keinerlei Gerüchte über Streitereien. Sam Taylor, eine Ex-Freundin des Athleten, beschrieb ihn im Prozess allerdings als jemanden, der sehr wütend werden konnte. Eine zentrale Rolle spielen im Verfahren Textnachrichten, die Pistorius und Steenkamp austauschten. Während der Großteil von einer liebevollen Beziehung zeugt, heißt es in einer Nachricht der 30-Jährigen an ihren Freund: "Ich habe manchmal Angst vor Dir, und davor wie Du mich anfauchst und wie Du zu mir bist." Pistorius beteuerte sie in seiner eidesstattlichen Erklärung im vergangenen Jahr, seiner bis zum Prozess einzigen öffentlichen Wortmeldung zu den Vorwürfen: "Wir waren sehr verliebt und ich hätte nicht glücklicher sein können." Als vor Gericht Rechtsmediziner und Kriminaltechniker zu Steenkamps Tod aussagten, musste sich der Angeklagte immer wieder übergeben. Wie war das Verhältnis der beiden tatsächlich?

Ist der Angeklagte ein unvernünftiger Waffennarr?

Nach den tödlichen Schüssen im Februar 2013 tauchten Berichte über Pistorius' angebliche Paranoia auf. Der Waffenhändler Sean Rens schilderte im Prozess einen Vorfall, bei dem der Paralympics-Athlet nach eigener Aussage mit der Waffe im Anschlag durch sein Haus geschlichen sei, auf der Suche nach der Ursache für ein verdächtiges Geräusch. Am Ende habe es sich nur um die Waschmaschine gehandelt. Pistorius besaß - ganz legal - eine Neun-Millimeter-Pistole, hatte bei Rens aber sechs weitere Schusswaffen bestellt. Die Munition, durch die Steenkamp zu Tode kam, ist nach Aussage des Forensikers Gert Saayman darauf ausgerichtet, "maximalen Schaden anzurichten". Neben der Tötung von Steenkamp ist Pistorius' auch wegen zweier Vorfälle angeklagt, bei der er öffentlich eine Schusswaffe abfeuerte. Einmal gab er einen Schuss durch das offene Dachfenster eines Wagens ab, einmal hantierte er unter dem Tisch eines Restaurants so lange mit der Waffe eines Freundes, bis sich ein Schuss löste.

Ungereimtheiten in Pistorius' Version

Wie verlief der Abend vor Steenkamps Tod?

Laut dem Angeklagten ging das Paar friedlich gegen zehn Uhr abends zu Bett. Vor dem Einschlafen hätten sie also zuletzt miteinander gesprochen. Gegen diese Version spricht zweierlei: Der Mageninhalt, der laut Saayman darauf schließen lässt, dass Steenkamp etwa zwei Stunden vor ihrem Tod - gegen ein Uhr morgens - noch etwas aß. Und die Stimmen einer Frau und eines Mannes, von denen eine Nachbarin berichtet, sowie die Schreie - ebenfalls von einer Frau und einem Mann - die vier Personen bezeugen.

Wer schrie?

Nachbarn seines Anwesen im exklusiven Hochsicherheits-Wohnkomplexes Silver Woods und aus dem angrenzenden Silver Stream berichteten von den angsterfüllten Schreien einer Frau, bevor und während mehrere Schüsse fielen. Nach Aussage des Ballistikers Chris Mangena ist es sehr wahrscheinlich, dass Steenkamp zwischen den Schüssen um ihr Leben schrie. Pistorius' Verteidigung widerspricht diesem zeitlichen Ablauf. In ihrer Variante stammen die einzigen Schreie von Pistorius: Demnach brüllte er den vermeintlichen Eindringling an, er solle verschwinden und rief der vermeintlichen Steenkamp im Bett zu, sie solle die Polizei rufen. Verteidiger Barry Roux beharrt zudem darauf, dass die vermeintliche Frauenstimme auch einem sehr angespannten Oscar Pistorius gehört haben könnte. Die Nachbarin Anette Stipp will außerdem Licht im Badezimmerfenster gesehen haben. Dem Angeklagten zufolge spielte sich alles in völliger Dunkelheit ab.

Wann genau trug Pistorius seine Prothesen?

Der beidseitig beinamputierte Sportler sagt, er habe keine Prothesen getragen, als er durch die Tür feuerte - ein Grund, warum er sich so bedroht fühlte. Als er anschließend bemerkt habe, dass Steenkamp nicht im Bett lag, habe er seine Prothesen angelegt und mit einem Cricket-Schläger die Tür eingeschlagen. Nach Aussagen des Kriminaltechnikers Johannes Vermeulen widersprechen die Spuren auf der Tür dieser Variante und legen nahe, dass Pistorius auf seinen Beinstümpfen war, als er auf die Tür einhieb. Nachbar Johan Stipp, der als einer der Ersten an Pistorius' Haus eintraf, erinnert sich ebenfalls, dass der Athlet ohne Prothesen war. Log der Angeklagte in diesem Punkt? Und wenn ja, warum?

Was geschah nach den Schüssen?

Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von Silver Woods sagte aus, dass er nach den Schüssen bei Pistorius anrief und dieser sagte: "Sicherheitsdienst, alles ist in Ordnung." Die Verteidigung verweist auf Anrufprotokolle, die dem widersprechen. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom Februar 2013 teilte Pistorius mit: "Ich habe Stander angerufen, der mit der Verwaltung des Wohnkomplexes zu tun hat und bat ihn, den Krankenwagen zu holen. Ich habe Netcare (Anmerkung: ein privater medizinischer Dienst) angerufen und um Hilfe gebeten." Wird sich Pistorius am Montag noch einmal dazu äußern?

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