Prozess in Verden:"Aus Hass und Rache"

Beginn Mordprozess gegen Vater und Tochter

Der Angeklagte wird mit Fußfesseln in den Verhandlungsaal geführt.

(Foto: Carmen Jaspersen/dpa)

Die Mutter verhungert auf der Couch im gemeinsamen Wohnzimmer. Am ersten Prozesstag gegen Vater und Tochter kommen grausame Details ans Licht.

Von Peter Burghardt, Verden

Sie schauten offenbar zu, als ihre Mutter beziehungsweise Frau auf der Wohnzimmercouch verhungerte. Ende Januar 2015 war die alkoholkranke Antje T. im Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses der niedersächsischen Gemeinde Thedinghausen gestürzt und hatte sich die linke Hüfte gebrochen. Danach soll die Verletzte fast zwei Monate lang gelitten haben - im selben Raum, in dem ihr Mann und ihre Tochter vor dem Fernseher saßen.

Am 19. März 2015 wurde die Polizei in jene Wohnung gerufen und fand dort die Leiche von Antje T., 49 Jahre alt. Zum Zeitpunkt des Todes, der nach wochenlanger Agonie ein oder zwei Tage vorher eingetreten sein muss, wog die 1,60 Meter große Frau nur noch 26 Kilo. Die Ermittler berichten Fürchterliches: Ihr ausgezehrter Körper sei wund gelegen und das Sofa von ihren Fäkalien durchtränkt gewesen.

Am Tag nach dem entsetzlichen Fund wurden die nun 18-jährige Melanie T. und der 50-jährige Michael T. verhaftet. Seit Dienstag stehen sie vor dem Landgericht Verden. Die Justiz geht davon aus, dass sie die Mutter, beziehungsweise Ehefrau, nach deren Unfall mutwillig sterben ließen. "Aus Hass und Rache", wie die Staatsanwältin Annette Marquardt erläutert.

Der Sadismus sprengt jede Vorstellungskraft

Die Anklage lautet auf Mord durch Unterlassung aus Grausamkeit und niedrigen Beweggründen. Solche Vorwürfe sind in dieser Form selten. Dieser Fall könnte für eine gerade volljährig gewordene Halbwaise und einen Witwer lange Gefängnisstrafen zur Folge haben, weil sie trotz engster Nähe zu dem Opfer nichts für ihr Überleben getan haben sollen, obwohl sie von ihnen abhängig war. Das gilt als mordähnlicher Verstoß gegen die Fürsorgepflicht, denn laut der Behörden hatte Antje T. nach ihrem Sturz weder Zugriff zu einem Telefon noch zu Nahrung und Getränken. Sie wurde demnach nicht einmal zur Toilette gebracht. "Langsam und qualvoll verstorben" sei Antje T., sagt Staatsanwältin Marquardt. "Sie hätte noch am Tag ihres Todes gerettet werden können."

Der Horror erschüttert selbst erprobte Zuhörer. Die Tat sprenge alle Vorstellungen, so Katharina Krützfeldt, Sprecherin des Verdener Gerichts. Die Staatsanwältin Marquardt nennt unfassbare Details, Zeugnisse eines völlig unmenschlichen Sadismus. Der rechte Hüftknochen sei am Ende frei gelegen und die Haut der Toten mit dem Stoff des Sofas wie verschmolzen gewesen.

Hunger, Durst, Schmerzen, Alkoholentzug - Antje T. sei am Ende kaum mehr bei Bewusstsein gewesen. Marquardt schildert den Gestank. Der Angeklagte habe sich "morgens regelmäßig übergeben". Und dennoch hätten Vater und Tochter offenbar nicht gehandelt, sondern sogar über das Opfer gelacht.

Die Mutter war offenbar alkoholabhängig

Warum kann so etwas mitten in einer Familie in Deutschland passieren? Und weshalb hat in der Nachbarschaft niemand etwas von dem Drama gemerkt oder unternommen, nicht mal die Oma, die Mutter von Antje T., die im Untergeschoss lebt und anscheinend erst bei der Polizei anrief, als alles schon zu spät war? Die Gründe und die Schuld wollen die Richter unter dem Vorsitz von Joachim Grebe bis November klären, begleitet von großem Medieninteresse.

"Vielleicht fangen wir einfach mal vorne an", sagt Grebe, als Melanie und Michael T. Teile ihrer Geschichte erzählen sollen. Beide enthüllen erst ihre Gesichter, als die Kameras weichen. Sie: klein, mit dickem Schal und verweinten Augen hinter der Brille. Er: klein, mit grauem Haar, Schnauzer und weißem Kurzarmhemd, auf denen Schriftzüge einer Reifenmarke und Sportwagenfirma zu lesen sind.

Stockend und oft schwer verständlich sprechen sie über die Zeit vor dem Drama. Melanie T. wiederholte bereits die erste Klasse, wurde immer wieder von Mitschülerinnen gemobbt und machte ohne Abschluss mehrere unvollständige Ausbildungen, zuletzt als Malerin und Lackiererin. Schulunterricht holt sie gerade in der JVA Vechta nach. Über ihre Mutter spricht sie nicht, noch nicht. Antje T. war seit Melanies Kindheit Alkoholikerin und schien sich kaum um die Familie zu kümmern, das gilt als ein Motiv von Rache und Hass.

Die Staatsanwältin ist fassungslos

Michael T. lernte Antje T. auf dem Bremer Volksfest kennen, 1991 wurde geheiratet. "War das Liebe auf den ersten Blick?", fragt der Richter Grebe. "Waren Sie nach drei, vier Tagen schon ein Paar?" - "Korrekt", antwortet Michael T., er sagt wenig. Sein Schwiegervater war Kellner, trank und prügelte. Michael T. trank wohl auch und jobbte in unterschiedlichen Branchen, zuletzt überführte er in Deutschland Autos. An manches will er sich nicht erinnern. "Müsste meinen Lebenslauf mithaben", nuschelt er. "Wäre gut gewesen", erwidert Grebe. "Was glauben Sie, warum Sie hier sind?"

Die Richter wollen und müssen versuchen, die Ursachen des Unerklärlichen zu ergründen. Die Angeklagten sollen helfen. Ihr Verteidiger Jochen Zersin sagt, die Vorwürfe seien "eine unzulässige Vorverurteilung". Antje T. habe sich längst nicht mehr helfen lassen. Sie sei wegen ihrer Sucht isoliert gewesen und abgemagert, sie habe das Haus nicht verlassen und sich geweigert, zum Arzt zu gehen. Auf ihre Tochter habe sie mit Gewalt reagiert.

Das klingt fast so, als sei die tote Antje T. mehr oder weniger selber an ihrem Schicksal schuld gewesen. Da wird die Staatsanwältin wütend. Solche Unterstellungen könne sie nicht stehen lassen, "das macht mich echt fassungslos", kontert Annette Marquardt. Die Verteidigung solle sich die Fotos des Leichnams von Antje T. ansehen, "voller Maden und Würmer". Am Ende von Tag eins des Verfahrens klicken Handschellen. Ende September geht es weiter.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: