Verbrechen:Krimi ohne Ende

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Grégory Villemin wurde im Oktober 1984 tot in einem Fluss gefunden.

(Foto: AFP)

Seit mehr als drei Jahrzehnten rätselt die ganze französische Nation darüber, wer 1984 den vierjährigen Jungen Grégory ermordet haben könnte. Nun wurden zwei neue Menschen festgenommen - und gleich wieder freigelassen.

Von Joseph Hanimann, Paris

Es war die berühmteste Kriminalaffäre Frankreichs. Doch nach 33 Jahren schien selbst hier das Sensationspotenzial langsam ausgeschöpft zu sein und die ungeklärten Rätsel kurz davor, sanft ins Vergessen abzugleiten.

Doch jetzt sind in der vergangenen Woche eine Großtante und ein Großonkel des 1984 vierjährig ermordeten Grégory Villemin festgenommen worden - und das Aufsehen wogte wieder hoch. Stand nun der ungeklärte Mordfall endlich vor seiner Lösung? Am Dienstag wurden die beiden Verhafteten von der Ermittlungskammer des Appellationsgerichts Dijon aus der Haft wieder entlassen. Sie bleiben aber weiter angeklagt wegen Entführung und Freiheitsberaubung mit tödlichen Folgen und stehen fortan unter Gerichtskontrolle. Das absurde Justizdebakel, das diese Affäre ebenfalls ist, geht damit in eine neue Runde.

Die Sache begann im Oktober 1984, als der kleine Grégory an Händen und Füßen gefesselt tot aus einem Fluss seines Heimatdorfs in den Vogesen geborgen wurde. Seine Eltern Jean-Marie und Christine Villemin hatten schon seit Monaten anonyme Drohbriefe erhalten, deren Verfasser dann auch den Mord auf sich nahm. Die Verdächtigungen innerhalb der zerstrittenen Familie aus Geschwistern, Schwägern, Onkeln, Tanten, Großeltern und Großtanten kamen in Gang. Jean-Marie Villemin war der Einzige im Clan, der es in diesem Arbeitermilieu zum Vorarbeiter gebracht hatte. Bei manchen weckte das Eifersucht. Drei Wochen nach dem Mord wurde sein Cousin Bernard Laroche als Tatverdächtiger verhaftet, unter Justizkontrolle dann aber wieder freigelassen. Der Vater des Knaben, überzeugt von Laroches Schuldigkeit, erschoss diesen im Frühjahr 1985. Aus anderen Familienkreisen wurde der Verdacht dann auf Grégorys Mutter Christine Villemin gelenkt. Sie wurde des Kindsmords angeklagt, 1993 aber entlastet. Das Verfahren gegen sie wurde eingestellt.

So ziemlich alles verlief schlampig und schief in dieser Geschichte. Unschlüssige Ermittlung, nachlässige Spurensicherung, unvollständige Autopsie, offene Polemik zwischen Richtern und Staatsanwaltschaft ließen den Prozess zum Drama werden. Die Presse bezog offen Stellung für die einen oder anderen Tatverdächtigen. Ganz Frankreich fieberte mit in einem Familiendrama, das sozialen Aufstiegswahn, Rivalität, Neid und Hass miteinander vermischte. Sätze wie "Dein Geld bringt den Kleinen nicht wieder, hochnäsiges Gör" standen in den anonymen Briefen, und in den anonymen Anrufen wurde das Lied "Chef, gib einen aus, wir haben Durst" gepfiffen. Auch prominente Persönlichkeiten aus der Kultur wie die Schriftstellerin Marguerite Duras schalteten sich ein und verliehen dem Fall das Format eines antiken Dramas aus dem Arbeitermilieu.

Die DNA-Spuren vom Speichel auf den Briefmarken waren für die Auswertung aber untauglich, als das Paar Villemin im Jahr 2000 und dann aufs Neue 2008 eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit neuen Tests verlangte. Der französische Staat war mittlerweile zu einer Schadenersatzzahlung an die Eltern für juristische Verfahrensfehler verurteilt worden. Wozu nun der DNA-Test in der vergangenen Woche an Murielle Bolle, die damals als Fünfzehnjährige ihren Schwager Bernard Laroche als Mörder verraten und dies dann gleich widerrufen hatte, gut sein soll - darüber wird noch gerätselt.

Grund für die abermalige Aufnahme der Ermittlung ist ein neues grafologisches Gutachten. Darin wird Jacqueline Jacob, eine Großtante des kleinen Grégory, als mögliche Autorin eines der anonymen Briefe aus dem Jahr 1983 bezeichnet, also noch vor dem Morddatum. Zusammen mit ihrem Gatten Marcel Jacob gerät die schon mehrmals verhörte 72-Jährige nun aufs Neue in den Kreis der Tatverdächtigen. Erwiesen ist allein, dass das Paar innerhalb des Familienclans der Villemin-Linie feindselig gegenüberstand. Die beiden Angeklagten dürfen sich laut Richterentscheid miteinander bis auf Weiteres nicht austauschen.

Die Figuren dieses Dramas könnten aus einem Balzac-Roman stammen

Die große Aufmerksamkeit in Frankreich für diesen Fall erklärt sich aus dem Temperament der Akteure, dem Justizversagen, das der Fall auch darstellt, und einer Art gemeinsamer Familienstory für die ganze Nation. Als die Affäre in der frühen Mitterrand-Ära begann, lebte die Gesellschaft einschließlich der Arbeiter in den nordostfranzösischen Industriegebieten noch im Geist des sozialen Aufstiegs. Front National, Fabrikverlegung, Globalisierung und offene Grenzen waren kein Thema. Die Figuren dieses Dramas hätten überdies mit ihren herben Profilen einem Balzac-Roman entlaufen sein können. Die angereisten Journalisten arbeiteten im abgelegenen Vogesendorf mit den heute schon altertümlich wirkenden Mitteln von Münztelefon und schwerer Fotokamera und bereiteten die Ereignisse in den Nachrichten dann zur Fortsetzungsfolge einer polternden Familiensaga auf. Jeder Franzose bekommt in dieser Geschichte heute kollektiv ein Stück eigener Vergangenheit wieder und weiß über den Mordhergang doch immer noch genau so wenig wie am ersten Tag.

Die jüngste Episode versprach die Lösung, leitet aber doch wieder die nächste Fortsetzung ein. Die Justiz sucht sich dadurch einer alten Hypothek zu entledigen. Die Presse ist bestrebt, die alten Fehler von damals gutzumachen und berichtet so ausgiebig wie vorsichtig. Und das Publikum möchte den Ausgang endlich wissen.

Nur die Akteure sind älter und blasser geworden. Das Elternpaar Villemin lebt heute zurückgezogen im Pariser Raum. Die Großeltern Monique und Albert Villemin sind mit ihren 85 und 86 Jahren trotz verlängerter Verjährungsfrist kaum mehr zu belangen. Andere sind schon gestorben. Es ist ein Krimi, der kein Ende finden will.

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