Verbrechen in Italien:Im Bann der Blutgruppe B

Warum das "Ungeheuer von Florenz" den Ermittler Giuttari nicht loslässt: Die endlose Geschichte eines Kriminalfalls, der längst zu Literatur wurde.

Henning Klüver

Die Luft flimmert vor Hitze, und der sonst immer auf korrekte Kleidung bedachte Commissario hat die Jacke seines hellgrauen Anzugs ausgezogen. Wir gehen auf eine kleine Anhöhe gleich neben der Via degli Scopeti. Das ist eine Kreisstraße, die sich von Florenz aus zum 300 Meter höher gelegenen Chianti-Städtchen San Casciano durch kleine Wälder und Weinberge windet. Wenn man ins Tal blickt, kann man in der Ferne die Brunelleschi-Kuppel sehen, die wie eine Insel aus dem Florentiner Dächermeer ragt.

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Ermittler Michele Giuttari am Tatort des "Ungeheuers"

(Foto: Foto: Klüver)

Doch diese alte Kulturlandschaft war auch Schauplatz eines grausigen Verbrechens. Zwei französische Touristen, ein 25 Jahre alter Mann und eine 36-jährige Frau, hatten hier ihr Zelt aufgeschlagen. In einer Sommernacht wurden sie überfallen, erschossen und mit Messerstichen entstellt. Der Frau wurde die linke Brust und die Scham entfernt.

Es war der 8. September 1985, Neumond. "Und hier" - Michele Giuttari, der Chef einer Sondereinheit zur Erforschung von Serienverbrechen, zeigt auf eine Stelle im Gebüsch, zwei, drei Schritte vom Tatort entfernt -, "hier wurde das blutige Taschentuch gefunden." Blutgruppe B, eine Blutgruppe, die weder zu den Opfern noch zu den vermeintlichen Tätern passt.

Beim Liebesspiel überrascht

Das war die letzte Tat einer Mordserie um Florenz herum, die zum Beispiel Magdalen Nabb zu ihrem Kriminalroman "Das Ungeheuer von Florenz" inspirierte. Zwischen 1974 und 1985 kamen insgesamt 16 Menschen ums Leben.

Dabei handelte es sich meistens um Pärchen, die der Mörder beim Liebesspiel überraschte. Er tötete sie mit immer derselben Waffe, einer halbautomatischen Beretta Kaliber 22, und entfernte anschließend von der Frau Teile ihrer Sexualorgane. Nur einmal hat sich der Mörder getäuscht.

Im September 1983 wurden zwei Deutsche in der Nähe von Florenz in ihrem VW-Bus erschossen - die beiden 24-Jährigen Horst Meyer und Uwe Rusch. Wegen seiner langen Haare war Rusch offenbar für eine Frau gehalten worden. Als der Mörder den Irrtum bemerkte, verließ er den Tatort, ohne seine Opfer zu verstümmeln. Eine Neumondnacht auch diese. Wie alle Nächte, in denen "il mostro" seine Verbrechen verübte.

Erdrückende Indizien

"Das Ungeheuer" nannte die Öffentlichkeit den oder die grausamen Mörder. Panik machte sich breit. Sogar der Geheimdienst Sisde schaltete sich mit eigenen Ermittlungen ein. Ein Kopfgeld von 500 Millionen Lire (heute 250.000 Euro) wurde auf die Ergreifung des Täters ausgesetzt. Schließlich erstellten die Ermittler ein Täterprofil, das von einem sexuell besessenen Einzeltäter ausging.

Die Untersuchungen führten zu Pietro Pacciani, einem damals 60-jährigen Bauern aus San Casciano, der als gewalttätig galt und perverse Neigungen gezeigt hatte. Die Indizien waren erdrückend. Pacciani wurde 1994 in erster Instanz wegen achtfachen Doppelmordes schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Revisionsverfahren wurde er aber ein Jahr später überraschend freigesprochen, das Theorem vom Einzeltäter überzeugte die Richter nicht.

Im Bann der Blutgruppe B

Auch Michele Giuttari, der als neuer Chef-Kommissar 1995 an das Polizeipräsidium nach Florenz kam, hielt nichts von dieser Theorie. Der 1952 in Messina geborene Polizist, der sich nach Jurastudium und Staatsexamen besonders in der Mafia-Bekämpfung ausgezeichnet hatte, hielt zwar Pacciani für schuldig, suchte aber nach Mittätern - und fand sie.

Zwei Männer wurden durch alle Instanzen hindurch verurteilt. Als schließlich ein neuer Prozess gegen Pacciani beginnen sollte, wurde dieser tot in seinem Haus gefunden. Herzschlag? Weil er krank war? Oder wollte jemand verhindern, dass Pacciani reden und Hintermänner nennen könnte? Und zu wem gehörten die Spuren der Blutgruppe B, die an mehreren Tatorten gefunden, aber keinem der bislang in den Fall verstrickten Personen zugeordnet werden konnten?

Drei Männer und der Satan

Giuttari vermutete nach allen Indizien einen Satanskult hinter den drei Männern, die die Morde ausgeführt hatten. In einem Haus unweit von Sant Andrea hatten in den achtziger Jahren rituelle Sitzungen dieser Art stattgefunden. Pacciani, so glaubte er, sei keines natürlichen Todes gestorben.

Doch als der Commissario weiter ermittelte, nahmen die Merkwürdigkeiten zu. Drohbriefe erreichten ihn, mal wurden die Reifen seines Wagens zerstochen, mal die Bremsleitungen gelockert.

Seine eigene Behörde versuchte mehrmals, ihn zu befördern und an einen anderen Ort zu versetzen. Während der mit dem Fall beauftragte Staatsanwalt den erstklassigen und durch die Ermittlungen berühmt gewordenen Polizisten behalten wollte, polemisierte die Leitung der Staatsanwaltschaft der toskanischen Regionalhauptstadt, die inzwischen gewechselt hat, gegen ihn. Es kam schließlich zum Konflikt, als Michele Giuttari eine Zwangsversetzung ablehnte und gegen seine eigene Behörde klagte - ein bislang einmaliger Fall in der italienischen Justizgeschichte.

Während dieser Zeit Ende der neunziger Jahre blieb Michele Giuttari monatelang vom Dienst suspendiert. Um nicht in ein "psychologisches Loch" zu fallen, so erzählt er heute, begann er zu schreiben. Zuerst ein kleines Sachbuch über den Fall des "Ungeheuers von Florenz" zusammen mit dem Schriftsteller Carlo Lucarelli.

Der Commissario schreibt über sich einen Roman

Und dann einen eigenen, fiktiven Krimi: "Scarabeo", so wie das italienische Scrabble-Spiel heißt. Das Buch ist gerade bei Lübbe unter dem Titel "Die Signatur" auf Deutsch erschienen. Als Protagonist tritt ein Commissario Ferrara auf, Leiter der Kripo von Florenz, der wie sein Autor Michele mit Vornamen heißt, der wie er kurze Toscani-Zigarren raucht und wie er mit einer blonden Deutschen verheiratet ist. Petra heißt sie im Buch, Christa in Wirklichkeit.

Nach "Scarabeo", der in Italien ein Bestseller wurde, hat Michele Giuttari einen zweiten Roman geschrieben, der als die "Loge der Unschuldigen" im kommenden Winter auch auf Deutsch erscheinen soll. In beiden Romanen spürt man deutlich das Echo der Geschehnisse um die Ermittlungen in Sachen "mostro".

Im Bann der Blutgruppe B

Denn im Streit um seine Rolle als Ermittler hatte Michele Giuttari Recht bekommen - auch das ein einmaliger Vorgang. Nach dem Urteil des zuständigen Verwaltungsgerichts, das vom Kassationsgericht bestätigt wurde, musste er wieder in den Dienst integriert werden.

Es kam nach längerem Hin und Her schließlich zu einem Kompromiss: Giuttari verließ im Jahr 2003 die Kripo Florenz und wurde Chef einer neuen, auf Serienverbrechen spezialisierten Einheit (Gides), die direkt dem Ministerium unterstellt wurde.

Wichtige Zeit war so verlorenen gegangen, und es wurde immer schwerer, Spuren eines Falles zu verfolgen, der inzwischen mehr als zwanzig Jahre zurücklag. Und der Geschichten zu Tage brachte, die nur die Wirklichkeit schreiben kann, weil man sie keinem Autor abnehmen würde. Eine der Spuren führte nämlich nach Umbrien und nach Perugia zu einem Arzt, der Verbindungen zu Pacciani und seinen Mittätern gehabt hatte.

Die vertauschten Leichen

Kurz nach Ende der Mordserie des "mostro" im Herbst 1985 wurde dieser Arzt tot aus dem Lago di Trasimeno gefischt. Ein Unfall? Eine merkwürdig hektische Obduktion bescheinigte noch am Ort des Geschehens den natürlichen Tod des Arztes. Angehörige identifizierten die Leiche sofort, obgleich sie nach Aussagen anderer "negroide Züge" aufwies. Giuttari, der jetzt eng mit der Staatsanwaltschaft Perugia zusammenarbeitete, erwirkte zwanzig Jahre später eine neue Leichenbeschau.

Dabei stellte sich heraus: Im Sarg lag der Körper des Arztes, aber nicht der Körper der aus dem Trasimenosee gefischten Person, die damals obduziert und identifiziert wurde. Offensichtlich wurden die beiden Leichen anschließend vertauscht. Am Körper des Arztes stellten die Gerichtsmediziner Spuren am Hals fest, die auf eine Erdrosselung schließen lassen. Warum wurde der Arzt - auch er hatte nicht die Blutgruppe B - umgebracht? Und warum haben Polizei und Carabinieri bei diesem Verwirrspiel mitgemacht? Sollte eine höher stehende Persönlichkeit geschützt werden?

Die Geschichte des Ungeheuers von Florenz scheint sich wie eine Spirale durch die Zeit zu winden und mit anderen Verbrechen zu verbinden. Zum Beispiel mit einer Serie von Morden an Prostituierten, bei denen der oder die Täter ebenfalls Zeichen von Satanskulten hinterließen. Und bei der die Blutgruppe B wieder auftauchte. Zur Geschichte gehören auch Verleumdungen Giuttaris durch die Lokalpresse und der Fall eines Journalisten, der irrige Spuren legte und Beweise fälschte.

"Krieg" zwischen den Staatsanwälten

Zum Fall gehört schließlich der endgültige Bruch mit der Staatsanwaltschaft von Florenz, die ihren früheren Star-Ermittler fallen gelassen hat, der jetzt allein Perugia zuarbeitet. Zwischen den Staatsanwaltschaften von Perugia und Florenz ist derweil eine Art "Krieg" ausgebrochen, der mit gegenseitigen Beschuldigungen und Zivilklagen ausgetragen wird.

Michele Giuttari hat alles in einem von Fakten strotzenden Buch niedergelegt, das jetzt bei Rizzoli erschienen ist: "Il mostro - anatomia di un' indagine" (Das Ungeheuer - Anatomie einer Ermittlung). Der Fall wird niemals ganz aufgeklärt werden, "dafür ist es zu spät", sagt der freundliche Beamte. Ob der 54-Jährige weiter als Polizist arbeiten wird oder sich lieber ganz auf die Schriftstellerei verlegen soll, bleibt offen.

Via degli Scopeti im Sommer 2006. Eine Art historischer Ortstermin am letzten Tatort des "mostro". Wildes Gras ist auf der kleinen Anhöhe gewachsen, vom Tal wehen Geräusche der Schnellstraße Florenz-Siena herüber. "Michele, du hast mich nie an diesen schrecklichen Platz geführt", sagt Christa zu ihrem Mann. Und der antwortet fast zärtlich: "Warum hätte ich das tun sollen?"

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