US-Justizskandal:35 Jahre im Knast - für nichts

Ein Amerikaner bekam als 19-Jähriger lebenslänglich, weil er angeblich ein Kind vergewaltigt hatte. 35 Jahre später beweist eine DNS-Probe seine Unschuld. Entschuldigt hat sich die Justiz nicht.

A.-K. Eckardt

Alle wollen ein Foto von ihm. Eins mit der Zwillingsschwester, eins mit der Familie, eins mit dem Anwalt, eins mit dem Bürgermeister. Und noch eins mit dem Gospelchor! James Bain lächelt tapfer. Will er seine Mundwinkel nur eine Sekunde entspannen, protestieren die Fotografen: "Mr. Bain, smile!" Geduldig lächelt er weiter.

US-Justizskandal: James Bain strahlt nach der Entscheidung des Gerichts. Als 19-Jähriger wurde er zu Unrecht eingesperrt - mit 54 Jahren ist er wieder ein freier Mann.

James Bain strahlt nach der Entscheidung des Gerichts. Als 19-Jähriger wurde er zu Unrecht eingesperrt - mit 54 Jahren ist er wieder ein freier Mann.

(Foto: Foto: AP)

Er hat in seinem Leben schon Schlimmeres überstanden: James Bain saß 35 Jahre lang unschuldig im Gefängnis.

Bain ist Ehrengast bei der Feier zum Martin Luther King Day an diesem Januartag im Sheraton-Hotel in Philadelphia. Einen besseren Ehrengast als den hageren Mann aus Florida hätte man kaum finden können - ein Schwarzer mit unglaublichem Stehvermögen und einer Geschichte, die viel aussagt über das Rechtssystem in den USA.

Unschuldsbeweis kurz vor Weihnachten

Aus ganz Amerika sind die 300 Gäste gekommen, dahin, wo das Land vor 234 Jahren mit der Unabhängigkeitserklärung das Fundament seiner Freiheit legte. Um zwölf Uhr läutet Bain die Liberty Bell, aber nur angedeutet. Das historische Stück hat seit Urzeiten einen Riss.

Bains eigene Freiheit ist an diesem Tag 31 Tage alt. Ein DNS-Test hat seine Unschuld bewiesen, kurz vor Weihnachten. Der 54-Jährige ist der 248. unschuldig Inhaftierte, der in den USA nach einer Erbgutprobe freigesprochen wurde.

Die hohe Zahl klingt gut, vor allem aber offenbart sie eine Schwäche im System: An US-Gerichten wurde lange im Zweifel gegen den Angeklagten entschieden. Alle zwei Wochen kommt derzeit ein Justizopfer frei. Manche waren sogar zum Tode verurteilt. Aber keiner saß so lange wie James Bain.

Von Neunjährigem der Vergewaltigung bezichtigt

Seine Freiheit verlor er am 23. März 1974. Bis zu jenem Tag hatte der damals 19-Jährige mit Mutter, Stiefvater, drei Schwestern und zwei Brüdern ein unaufgeregtes Leben in Tampa, einer Millionenstadt an der Westküste Floridas, geführt. 11. Klasse Highschool, Jobs als Orangenpflücker, keine Vorstrafen. Es ist kurz vor Mitternacht, als es an diesem Abend bei den Bains klingelt.

Janie, die Zwillingsschwester, öffnet. Vier Polizisten fragen nach James. "Wir müssen kurz eine Angelegenheit mit ihm klären." Sie ruft ihren Bruder, und der steigt nichtsahnend in den Wagen. Auf der Wache befragen sie ihn. Wo warst du heute? Mit wem? Was habt ihr gemacht? Warum man ihn festhält, erfährt er vier Tage später: Ein neunjähriger Junge habe ihn als seinen Entführer und Vergewaltiger identifiziert.

"Ich war fassungslos, aber überzeugt, dass sich der Irrtum schnell aufklären wird", erzählt Bain. Er sitzt in einem Ohrensessel in einem abgelegenen Flur des Sheraton-Hotels, in der Ferne hört man die Stimmen der Festgäste. Er wirkt erschöpft, aber nicht gebrochen - trotz der 35 Jahre in Haft. Nach einer langen Pause fährt er fort: "Ich kannte den Jungen nicht einmal, nur dessen Onkel. Er war Hausmeister an meiner Schule."

Bain hatte für die Tatzeit ein Alibi. Er war bei einem Freund gewesen und hatte später mit seiner Schwester zu Hause fern geschaut. Auch hatte man ihm nach der Tat kein Blut und keine Fingerabdrücke abgenommen - das geschah erst einen Tag vor dem Prozess. Bain schüttelt den Kopf und meint nur: "Das sagt doch alles."

"Ich dachte, das klärt sich morgen auf"

Die Anklage stützte sich vor allem auf die Aussage des ebenfalls farbigen Jungen. Dieser hatte zu Hause erzählt, der Täter habe ihn auf einem roten Moped entführt, vergewaltigt und gesagt: "Mein Name ist Jamie."

Der Onkel des Jungen überlegte nicht lang: James Bain, der Schüchterne aus der 11. Klasse. Der muss es gewesen sein. Mit ihren Ersparnissen engagierte Bains Familie einen der vermeintlich besten Anwälte der Stadt. Es half nichts.

Am Ende lautete das Urteil lebenslang mit dem Zusatz: Keine vorzeitige Entlassung vor 25 Jahren. Selbst da glaubte Bain noch nicht, dass er lange im Knast bleibt. "Ich dachte, das klärt sich auf. Morgen klärt sich das auf." Er habe es jeden Tag gedacht, all die 35 Jahre lang.

10.000 jugendliche Straftäter sitzen lebenslang

Für einen Heranwachsenden ist eine so hohe Strafe in den Staaten keine Seltenheit. Kein Land sperrt seine Bürger in so großer Zahl und für so lange weg wie die USA. Auf 100.000 Einwohner kommen 751 Häftlinge - in Deutschland sind es 82.

Etwa 10.000 Amerikaner, die ihre Taten als Kinder oder Jugendliche begangen haben, sitzen lebenslang ein. Bei fast einem Viertel dieser Minderjährigen trägt das Urteil den Zusatz "without parole" - auch nach jahrzehntelanger Haft und guter Führung dürfen sie nicht vorzeitig entlassen werden. Weil Begnadigungen extrem selten sind, bedeutet lebenslänglich darum für viele tatsächlich: bis zum Tod.

Sicher, James Bain hätte Berufung einlegen können. Doch wer in den USA erst einmal verurteilt ist, muss seine Unschuld beweisen. Mitte der siebziger Jahre, als es noch keine DNS-Analysen gab, als es Schwarze im Rechtssystem ungleich schwerer hatten, schien Bains Schicksal besiegelt. "Es war klar, dass ich keine Chance habe, meine Unschuld zu beweisen", sagt Bain, und es klingt nicht resigniert, sondern wie eine Feststellung.

So beginnt mit 19 Jahren sein Leben im Knast. Er sitzt in einer Zwölfer-Zelle - immer noch in der steten Hoffnung, dass er am nächsten Abend wieder mit seinen Freunden ausgehen kann. Jeder Tag ist ein Kampf, vor allem, wenn man klein ist - und ein Kinderschänder.

Es gab Prügel. Bain hat erst nur zurückgeschlagen und dann angefangen, sich nicht nur zu wehren. "Wer dort überleben will, muss das tun", sagt er. "Du musst zuerst schlagen." Mehr als 20 Disziplinar-Verfahren wird die Gefängnisleitung am Ende gegen ihn eingeleitet haben. Entlassung nach 25 Jahren? Ausgeschlossen.

Neues Gesetz ermöglicht DNS-Tests

Die Besuche der Eltern und Geschwister am Wochenende sind die einzigen Lichtblicke. "Sie haben zu mir gehalten, die ganze Zeit", sagt er. Direkt nach dem Urteil ist die Familie umgezogen in Tampa, weit weg von der Familie des Jungen, die ihn für den Kinderschänder hielt. In Zeiten ohne Internetpranger ging das noch.

Seine Familie habe ihm Mut gemacht, sagt Bain - und seine Religion. Je länger er sitzt, desto mehr klammert er sich daran. Jeden Abend betet er, "sonst wär ich verrückt geworden".

2001 scheint es, als habe Gott ihn endlich erhört: Ein neues Gesetz erlaubt in Florida die Untersuchung alter Kriminalfälle mit Hilfe von DNS-Tests. Bain fragt nach. Tatsächlich gibt es noch die Unterhose des Jungen, fast 30 Jahre lang hat man sie aufbewahrt. Bain beantragt einen DNS-Test.

Er wird abgelehnt; ebenso der zweite, der dritte, der vierte. Die Gründe sind stets dieselben: Formfehler. Er habe Fristen verpasst, den Fall nicht ausreichend geschildert. Bain nahm sich keinen Anwalt. "Ich dachte, ich schaff das allein", sagt er. Als die vierte Ablehnung kam, war da nur noch ein Gefühl: Ohnmacht. "Ich war frustriert", sagt Bain. Zum ersten Mal habe er Hass auf die Justiz verspürt.

"Alleine schafft er das nicht"

Ohne Seth Miller hätten sich die Gefängnistore für Bain vermutlich immer noch nicht geöffnet. Der Anwalt arbeitet für das Innocence Project, eine US-Organisation, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht.

Durch Zufall erfährt Miller nach dem vierten Antrag von Bains Fall. "Mir war klar, dass er das alleine nicht schaffen würde", sagt der 30-Jährige. Sie stellen einen fünften Antrag - diesmal mit Erfolg. Ein unabhängiges Labor darf die Unterhose untersuchen. Das Ergebnis: Bain ist nicht der Täter. Die Justiz ordnet einen zweiten Test an, lässt das Beweisstück von einem staatlichen Labor prüfen. Das Ergebnis ist dasselbe.

Das erste Handytelefonat seines Lebens

Danach geht alles sehr schnell. In einer eilig einberufenen Sitzung räumt der Staatsanwalt ein, James Bain habe nichts mit der Vergewaltigung des Jungen zu tun. Der Richter unterschreibt die Entlassungspapiere. "Sie sind ein freier Mann. Gratulation."

Was er gefühlt hat, an diesem 17. Dezember 2009, als er in die gleißende Wintersonne Floridas trat, kann Bain nicht beschreiben. Er ringt nach Worten - und findet keine. Janie, seine Zwillingsschwester, hat Tränen in den Augen. Jemand drückt ihm ein Handy ans Ohr. Das erste Handytelefonat seines Lebens führt er mit seiner kranken Mutter. Was das für ein Gefühl ist, wollen Reporter von ihm wissen. "Das war das stärkste Gefühl, das ich je hatte", sagt Bain.

Unbekanntes Land

Eine Entschuldigung von Seiten der Justiz hat er bis heute nicht erhalten. Aber er wird Geld bekommen - 50 000 Dollar für jedes verlorene Jahr, so schreibt es das Gesetz in Florida vor. "Natürlich können die 1,75 Millionen Dollar all das, was ich verpasst haben, nicht ersetzen, aber ich weiß, dass ich Glück hatte", sagt Bain. In andere US-Staaten hätte er viel weniger Entschädigung erhalten.

Von dem Geld will sich Bain ein kleines Haus kaufen - und eine Harley Davidson, irgendwann einmal. Er will den High-School-Abschluss nachmachen und will benachteiligten Jugendlichen helfen, sagt er. Fürs Erste ist er wieder bei seiner Mutter eingezogen.

Das neue Amerika ohne Telefonzellen, ohne Autos mit Kupplung, ohne Richard Nixon ist ihm noch zu fremd. Am schlimmsten sind die Automaten und Computer überall. "Den Flug hierher hätte ich nie alleine geschafft", sagt Bain. Er lächelt wieder für ein Foto. Die Hotelmanagerin hat ihn im Seitenflur gefunden.

Bain wird jedoch nicht nur Geld bekommen. Es gibt da noch jemanden, der ihm helfen will: das damalige Opfer. Über die Anwälte hat der heute 44-Jährige Kontakt aufgenommen. Gegen ein Treffen hat James Bain nichts einzuwenden. "Ich mache ihm keine Vorwürfe, auch seinem Onkel nicht", sagt er. "Vielleicht hätte ich an seiner Stelle genauso gehandelt."

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