Urteil im Marwa-Prozess:Rachegedanken, Wut und Hass

Alex Wiens, der Mörder von Marwa el-Sherbini muss lebenslang hinter Gitter. Von Muslimen wurde die Höchststrafe positiv aufgenommen.

Hans Holzhaider

Um zwölf Uhr mittags ertönte vor dem Dresdner Landgericht, verstärkt durch zwei Lautsprecher, der Gebetsruf der Muslime, etwa drei Dutzend Männer knieten sich auf den nassen Rasen in Richtung Mekka. Demonstranten trugen Transparente mit der Aufschrift: "Stoppt die Hetzkampagne gegen den Islam".

Urteil im Marwa-Prozess: Beten für ein gerechtes Urteil: Muslime vor dem Gerichtsgebäude in Dresden.

Beten für ein gerechtes Urteil: Muslime vor dem Gerichtsgebäude in Dresden.

(Foto: Foto: AP)

Zu dieser Zeit saßen die Richter und Schöffen der Schwurgerichtskammer noch bei ihrer Beratung über das Urteil, das sie gegen den 28-jährigen Russlanddeutschen Alex Wiens verhängen sollten, der am 1. Juli 2009 in einem Saal eben dieses Gerichtsgebäudes die Ägypterin Marwa el-Sherbini erstochen hatte. Zweieinhalb Stunden später war es so weit: Lebenslange Haft, unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, für den Mord an der 31-jährigen Marwa und für den versuchten Mord an ihrem Ehemann Elwy Ali Okaz.

Genugtuung für Muslime

Es war das Urteil, das alle erwartet hatten, und das besonders die in Deutschland lebenden Muslime mit Genugtuung erfüllt. "Wir sind stolz auf die Unabhängigkeit und Souveränität unserer Justiz", sagte Ayub Köhler, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Die Vorsitzende Richterin Brigitte Wiegand betonte, die internationale öffentliche Aufmerksamkeit, die dieses Verbrechen erregt hatte, habe zwar den Ablauf des Verfahrens, nicht aber das Urteil beeinflusst: "Es wurde nicht für Moslems gesprochen, auch nicht für ägyptische Rechtsanwälte", sagte sie. Sie spielte damit auf den Vorsitzenden der ägyptischen Anwaltskammer, Hamdi Khalifa, an, der "im Namen von mehr als einer halben Million arabischer Anwälte" die Höchststrafe gefordert hatte.

Die Vorsitzende Richterin referierte ausführlich die Vorgeschichte - den Vorfall auf einem Spielplatz, wo Wiens die Ägypterin, die ihren kleinen Sohn schaukeln lassen wollte, massiv anpöbelte und beleidigte, den Strafbefehl, das Amtsgerichtsverfahren und schließlich den Berufungsprozess vor dem Landgericht, in dessen Verlauf Wiens völlig unvermittelt ein Messer aus seinem Rucksack zog und Marwa el-Sherbini, die gerade ihre Zeugenaussage beendet hatte, mit berserkerhafter Wut attackierte. Die Ägypterin erlag noch im Gerichtssaal ihren Verletzungen, ihr Ehemann, der ihr zu Hilfe eilte, wurde lebensgefährlich verletzt.

Voll schuldfähig

Ein Fax aus Moskau hatte kurz vor Prozessende noch einmal einen Aufschub verursacht. Die russische Generalstaatsanwaltschaft teilte mit, dass Alex Wiens im Juli 2000 - damals war er 19 Jahre alt - wegen einer "undifferenzierten Schizophrenie mit episodischem Verlauf und zunehmenden Defiziten" unter Beobachtung gestellt worden sei.

Der Gerichtspsychiater Stephan Sutarski wurde noch einmal über eine Stunde lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verteidigern in die Mangel genommen. Er blieb aber bei seiner Aussage, dass es keine Anzeichen für eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten gebe. Wiens' Verteidiger Michael Sturm forderte deshalb für den Fall, dass das Gericht sich dieser Meinung anschließe, ein zweites psychiatrisches Gutachten. Es gebe eine Reihe von Hinweisen, dass der Angeklagte im Affekt gehandelt habe, als er Marwa el-Sherbini mit dem Messer attackierte, sagte Sturm. Das Bild des "eiskalten Killers", das der Staatsanwalt von Wiens gezeichnet habe, sei falsch.

Das Gericht sah in der Nachricht aus Moskau kein Indiz für eine psychische Erkrankung des Angeklagten. "Wie es in der Sowjetunion zu dieser Diagnose kam, ist völlig unklar", sagte die Richterin. Wiens selbst habe sich nicht geäußert, "wir können nicht zu seinen Gunsten einfach irgendetwas unterstellen". Ob es sich um eine Affekttat handele, habe man sehr lange beraten, insgesamt spreche mehr dagegen als dafür.

Messer im Rucksack

Wiens habe das Tatmesser vor der Verhandlung ganz bewusst in seinen Rucksack gesteckt, auch wenn er zu dieser Zeit vielleicht noch nicht zum Mord entschlossen gewesen sei. Er habe es während der Verhandlung heimlich an sich gebracht, und er habe für den Angriff auf Marwa el-Sherbini, unter bewusster Ausnutzung ihrer Arglosigkeit, den Augenblick gewählt, in dem sie seiner Attacke nicht ausweichen konnte.

Ein Motiv für ihn sei gewesen, dass er sich für die vom Gericht gegen ihn verhängte Strafe habe rächen wollen, sagte Wiegand. Wiens habe es nicht hinnehmen wollen, dass er von "so einer", der er als Muslimin kein Lebensrecht in Deutschland zubillige, zurechtgewiesen werden könne. Ein anderes Motiv sei aber auch sein Ausländerhass, der sich insbesondere gegen Muslime richte und der sich "wie ein roter Faden durch sein Leben zieht. Rachegedanken, Wut, Hass summierten sich zu dem Tatmotiv", sagte die Richterin.

Dass es zur Tatzeit am Dresdner Landgericht keine Personenkontrollen gab, sei dem Umstand zuzuschreiben, dass man in Sachsen die Justiz "leicht erreichbar und transparent" machen wollte, sagte die Richterin. Ausdrücklich in Schutz nahm sie ihren Richterkollegen, der keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatte. "Das hätte ich genauso gemacht", sagte sie. "Es gab keinerlei Anzeichen, dass eine Gefahr droht."

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