Drei Jahre Haft im Fall Tuğçe:"Kein Killer, Totschläger oder Koma-Schläger"

  • Das Landgericht Darmstadt hat ein Urteil gefällt: Der Angeklagte Sanel M. muss wegen Körperverletzung mit Todesfolge drei Jahre in Jugendhaft.
  • Noch bevor er auf die Gründe für sein Urteil eingeht, wendet sich der Richter an die Eltern von Tuğçe Albayrak, die im November 2014 ihre Tochter verloren hatten.
  • Die Verteidigung will womöglich in Revision gehen.
  • Die Verhandlung war durch widersprüchliche Zeugenaussagen geprägt.

Drei Jahre Gefängnis für Sanel M.

Es ist eine "ungewöhnliche Urteilsbegründung", wie Richter Jens Aßling gleich zu Beginn sagt. Zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt er den Angeklagten Sanel M., weil er es als erwiesen ansieht, dass der Angeklagte sich der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht hat. Doch noch bevor er auf den Tathergang und die Gründe für sein Urteil eingeht, wendet er sich an die Eltern von Tuğçe Albayrak, die im November 2014 ihre Tochter verloren haben.

"Richter demontiert Opfer", das habe er in den vergangenen Tagen in der Zeitung lesen müssen, sagt Aßling. Diese Darstellung wolle er entgegentreten. In den Vernehmungen einiger Zeugen hatte sich ergeben, dass Tuğçe und ihre Freundinnen den späteren Täter zuvor beleidigt und provoziert hatten. Es seien unangenehme Fragen gewesen, die er im Prozess haben stellen müssen. Doch das sei nötig gewesen, um den Sachverhalt aufzuklären.

Aßling bittet die Eltern außerdem um Verständnis darum, dass er gleich über die Zukunft des Angeklagten reden wird. Das mag wie Hohn auf die Eltern wirken, die im Prozess als Nebenkläger auftreten und - oft unter Qualen - sämtliche Verhandlungstage mitverfolgt haben. Ihre Tochter wurde schließlich ihrer Zukunft beraubt.

Die Urteilsbegründung des Gerichts

Die Staatsanwaltschaft hatte für Sanel M. drei Jahre und drei Monate Jugendgefängnis gefordert. Die Nebenklage deutete an, dass sie eine höhere Strafe begrüßen würde. Mit dem Urteil folgt das Landgericht nun in weiten Teilen der Anklage - eine höhere Strafe als von der Staatsanwaltschaft gefordert schloss das Aßling aber aus, weil er keinen Vorsatz erkannte.

Der Täter habe den Tod der 22-Jährigen nicht beabsichtigt, so der Richter. Sanel M. sei "kein Killer, Totschläger oder Koma-Schläger". Die Höchststrafe für Körperverletzung mit Todesfolge liegt nach dem Jugendstrafrecht bei zehn Jahren Haft.

Der 18-jährige Sanel M. war zuvor schon viermal strafrechtlich in Erscheinung getreten, zweimal wegen Diebstahls, einmal wegen räuberischer Erpressung und einmal wegen gefährlicher Körperverletzung. Dafür saß er 2013 auch bereits im Jugendarrest. Wegen dieser Vorstrafen und weil man beim Angeklagten von "schädlichen Neigungen" ausgehen müsse, komme eine Bewährungsstrafe nicht in Frage.

Verteidigung will womöglich in Revision gehen

Die Anwälte von Sanel M. erwägen, das Urteil anzufechten. "Wir werden in Revision gehen", sagte sein Anwalt Heinz-Jürgen Borowsky. Das Strafmaß sei zu hoch, weshalb sie mit ihrem Mandanten erörtern wollten, ob sie Rechtsmittel einlegen, sagte Sanel M.s zweiter Verteidiger Stephan Kuhn. Man halte die Begründung des Gerichts nicht für überzeugend, es hätte bessere Möglichkeiten für Sanel M. gegeben, als ihn jetzt im Gefängnis wegzusperren. Die Anwälte des Angeklagten hatten auf eine Jugendstrafe von einem Jahr plädiert, die zur Bewährung ausgesetzt werden solle.

Das Geständnis des Angeklagten

Der Angeklagte hatte zu Beginn des Prozesses eingeräumt, Tuğçe Albayrak im November vergangenen Jahres auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants niedergeschlagen zu haben. Die 22-Jährige war mit dem Kopf auf den Boden aufgekommen und aus dem Koma nicht mehr erwacht. Strittig war in der Verhandlung die Frage, ob Sanel M. mit dem Tod des Opfers habe rechnen müssen.

Der Angeklagte beteuerte, niemals mit Tuğçes Tod gerechnet zu haben. In seinem Schlusswort vor dem Urteil sagte er: "Der Schlag war der schlimmste Fehler meines Lebens. Ich kann nur sagen, dass es mir leidtut."

Widersprüchliche Zeugenaussagen

Es war ein komplizierter Fall gewesen - nicht nur wegen des riesigen öffentlichen Interesses. Weil es fast keine "neutralen" Beobachter gab und die meisten Zeugen entweder Freude des Opfers oder Freunde des Täters waren, hatte das Gericht Mühe zu rekonstruieren, was sich am 15. November 2014 auf dem Parkplatz in Offenbach zugetragen hat.

Die Zeugen äußerten sich vor Gericht oft widersprüchlich, wichen von ihren früheren Aussagen ab oder stellten sich offensichtlich auf die Seite Tuğçes oder die Seite des Angeklagten. "Nur mit Zeugenbeweisen alles aufzuklären wäre äußerst schwierig gewesen", sagte Oberstaatsanwalt Alexander Homm in der Verhandlung.

In der Öffentlichkeit entstand bereits vor dem Prozess ein klares Bild: Hier das mutige Opfer, das zwei Mädchen zu Hilfe kam und ihren heldenhaften Einsatz mit dem Leben bezahlen musste, dort der als aggresiv bekannte und polizeibekannte Schläger. Doch während der Verhandlung wurde deutlich, dass diese Version der Ereignisse wohl nicht haltbar ist. Zeugenaussagen zufolge ging die Aggression nicht allein von Sanel M. und seinen Kumpels aus. die beiden Gruppen hätten sich mit verbalen Attacken vielmehr gegenseitig hochgeschaukelt. Die Verteidiger des Angeklagten beklagten eine "beispiellose Medienkampagne" gegen ihren Mandanten.

Auch der Richter kritisierte, dass viele Medien die Darstellung von Sanel M. als gewissenlosem Schläger kritiklos übernommen hätten. Auch sei es für ein Gericht schwierig, wenn selbst höchste Vertreter des Staates sich äußerten, bevor ein Urteil gefallen sei. Diese Aussage zielt wohl auf Bundespräsident Joachim Gauck, der der Familie des Opfers einen Brief geschrieben und damit Stellung bezogen hat.

Rangelei im Gericht

Vor Beginn der Urteilsverkündung kam es im Gerichtsgebäude zu einer Rangelei. Einige Zuschauer hätten sich in der Warteschlange vor dem Gerichtssaal vordrängeln wollen, sagte ein Sprecher des Gerichts. Als andere mit Unverständnis darüber reagiert hätten, habe sich ein Handgemenge entwickelt. Nach dem Urteil soll es bei einer Mahnwache für die tote Studentin erneut zu Aggressionen gekommen sein.

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