Notstand in Ungarn:Giftschlamm bedroht Donau

Die Katastrophenhelfer in Ungarn kämpfen gegen die Ausbreitung des Giftschlamms bis zur Donau. Die Wut auf die Fabrikbetreiber wächst: Sie haben offenbar gegen Vorschriften verstoßen - und spielen die Gefahr herunter.

Ein Ende des Albtraums ist nicht in Sicht. Die westungarische Kleinstadt Ajka ist weiter im Ausnahmezustand. Zwar herrscht zwei Tage nach dem Bruch eines Giftschlammbeckens in einer Aluminiumfabrik für die Bevölkerung keine "unmittelbare Gefahr" mehr, versichert der ungarische Innenminister Sándor Pintér. Erleichtert ist aber niemand: Die giftige Schlammbrühe ist in die Erde gesickert und bedroht größere Flüsse wie die Donau - außerdem werden unter der braun-roten Schlammschicht weitere Leichen vermutet.

Unfall in Aluminium-Werk - Aufräumarbeiten

Aufräumarbeiten in Devecser: Die Bewohner müssen sich mit Maske und Handschuhen gegen die giftige Brühe schützen.

(Foto: dpa)

Den Helfern bot sich in den betroffenen fünf Ortschaften ein Bild der Verwüstung. Die Schlammlawine begrub Hunderte Häuser, viele Autos und ganze Gärten unter sich. Tote Fische aus dem Fluss Marcal wurden an die Ufer geschwemmt.

Zu der Chemiekatastrophe kam es, nachdem am Montag aus bisher ungeklärten Gründen ein Bauxitschlamm-Speicher der Aluminiumhütte Magyar Alumínium (MAL) geborsten war. Die giftige Masse strömte in einen Bach und vermengte sich mit dem Hochwasser, von dem die Region schon seit mehreren Tagen heimgesucht wird. Bauxit ist der wichtigste Rohstoff für die Aluminiumproduktion.

"Ich finde keine Worte dafür", zitiert das Onlineportal der Tageszeitung Népszabadság einen 25-jährigen Augenzeugen. "Ich rannte auf den Kirchhügel und musste zusehen, wie die Flut einfach mein Auto verschlang." Das "unheimliche, brodelnde Geräusch" der Lawine werde er nie vergessen, sagte er.

Der ungarische Staatspräsident Pál Schmitt besuchte nach Angaben der deutschsprachigen Zeitung Pester Lloyd am Dienstagnachmittag Angehörige der vier Todesopfer. Dabei handele es sich um einen 35-jährigen Mann, der in seinem Auto ertrank, eine ältere Frau sowie zwei kleine Mädchen, Schwestern im Alter von ein und drei Jahren.

Die Zahl der Todesopfer könnte allerdings auf zehn steigen: Sechs ältere Personen werden noch vermisst. Allerdings ist es nach Informationen von Pester Lloyd nicht sicher, ob sich alle zum Zeit des Unglücks in den Orten aufhielten. Andere Medien beziffern die Zahl der Vermissten auf drei.

Der Notstandsalarm wurde mittlerweile von den drei nordwestungarischen Bezirken noch auf den Fluss Marcal, den Zufluss Torna sowie das Westtransdanubische Trinkwasserreservoir ausgeweitet. Mittlerweile kämpft ein 500 Mann starker Aufräumtrupp gegen die Ausbreitung der Umweltkatastrophe bis zur Raab und Donau. Wenn das Gift bis in den zweitgrößten Fluss Europas vordringt, könnte es durch Kroatien, Serbien, Bulgarien, Rumänien und die Ukraine bis ins Schwarze Meer gelangen.

Die Einsatzkräfte arbeiten auch daran, aus dem beschädigten Speicher verbliebenen Bauxitschlamm abzusaugen. Nach Angaben eines Regierungssprechers ist das aus dem geborstenen Becken ausgetretene Material toxisch und könne sowohl Haut- als auch Augenirritationen hervorrufen. Es sei jedoch nicht radioaktiv, berichtete Pester Lloyd mit Verweis auf den Sprecher.

Dem widerspricht jedoch die Umweltschutzorganisation WWF: Das ausgeflossene Material sei sehr wohl "leicht radioaktiv", weshalb bereits 500 bis 600 Tonnen Gips zur Bindung in den Fluss geschüttet worden seien, berichtete die österreichische Tageszeitung Der Standard mit Verweis auf WWF.

Der WWF befürchtet demnach "verheerende Langzeitschäden". Der Rotschlamm, ein Überbleibsel aus der Aluminiumgewinnung, enthalte Blei, Kadmium, Arsen und Chrom - allesamt Gifte, die Flora und Fauna zerstörten. Gelangt das Gift in das Grundwasser, seien schwere Gesundheitsschäden zu befürchten.

Empörung bei der Bürgerversammlung

In einer ersten Bürgerversammlung zum Thema Wiederaufbau haben die Bewohner des betroffenen Gebiets ihrer Verzweiflung Luft gemacht: "Unsere Orte sind totes Land, die Tiere tot, Landwirtschaft auch in der kommenden Generation nicht möglich", sagte ein Bauer nach Angaben von Pester Lloyd. Die Häuser seien nichts mehr wert. "Jeder sollte versuchen, zu verschwinden."

Indes wird die Wut auf die mutmaßlichen Verantwortlichen immer größer. Innenminister Pintér reagierte auf eine Äußerung des Vorstandes der Betreiberfirma Magyar Alumínium (MAL), wonach der Schlamm gar nicht giftig sei, mit folgender Empfehlung: Die Mitglieder des Vorstands könnten "in der Brühe ja einmal baden, um zu sehen, ob sie giftig ist oder nicht", zitierte Pester Lloyd den Innenminister.

Nach Angaben des Umweltstaatsminister Zoltán Illés zeichnet sich ab, dass eine Überfüllung des Rotschlammbeckens zum Dammbruch führte. Auch seien die Becken nicht vorschriftsmäßig aufgeteilt gewesen, berichtete Pester Lloyd.

Später Produktionsstopp

Einer ersten Schätzung nach könnten die Aufräumkosten etwa 35 Millionen Euro betragen. Magyar Alumínium soll aber nur für Schäden bis maximal 35.000 Euro versichert sein. Die Behörden haben strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. Laut Pester Lloyd sei ein sofortiger Produktionsstopp verordnet worden, nachdem MAL nach der Havarie am Montag zunächst die Produktion fortgesetzt habe.

Die Umweltschutzorganisation WWF befürchtet nach Angaben des Standard, dass es im Donauraum weitere über die Norm gefüllte Giftschlammbecken geben dürfte, die teilweise sogar verlassen und ungesichert seien.

Die Katastrophe lenkt das Augenmerk auf den immer noch vernachlässigten Umweltschutz in Mittel- und Osteuropa. Im Januar 2000 war im nordwestrumänischen Baia Mare, unweit der ungarischen Grenze, ein Reservoir mit zyanidhaltigem Klärschlamm aus einem Goldbergwerk geborsten. Die Giftwelle hatte im ungarischen und serbischen Abschnitt der Theiß ein massives Fischsterben ausgelöst.

Der Bauxitschlamm in Kolontár wird - wie der Klärschlamm in Baia Mare - in offenen Speichern gelagert. Der rote Schlamm ist ein Nebenprodukt bei der Erzeugung von Tonerde (Aluminiumoxid), aus der wiederum Aluminium gewonnen wird. Das Aluminiumwerk MAL mit der Hütte im westungarischen Ajka und Reservoirs bei Kolontár hatte früher zu einem staatlichen Aluminium-Kombinat gehört und war nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs privatisiert worden.

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