Umstrittene Klassenfahrt:New York für Anfänger

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Illustration: Lisa Bucher/Fotos: Imago, dpa

Ein Leistungskurs der Robert-Koch-Schule aus Kreuzberg fliegt auf Staatskosten in die USA. Es folgte eine Welle der Entrüstung von Medien, Politikern, Eltern und Verbänden. Was sagen die Reisenden selbst?

Von Korbinian Eisenberger, Berlin

Die Schülertraube versammelt sich vor dem Ziegelgebäude, an der windgeschützten Wand, gleich neben den Graffiti. Eine Brise weht an diesem Tag. Mädchen halten ihre Kopftücher fest, in der anderen Hand qualmen Zigaretten. "Unserer Freundin haben sie vor gut einer Woche sogar 50 Euro angeboten, damit sie was vor der Kamera erzählt", sagt ein junger Mann mit türkischem Akzent. Das Mädchen habe abgelehnt. Geld anzunehmen kann sehr unangenehme Fragen aufwerfen, das haben sie hier in Kreuzberg deutlich zu spüren bekommen.

Die Robert-Koch-Schule Mitte November. Der Alltag ist zurückgekehrt. Dort, wo die Lehrer ihre Fahrräder anketten, haben Reporter vergangene Woche noch eine regelrechte Belagerung veranstaltet. Das Gymnasium hatte Aufsehen erregt, weil der Englisch-Leistungskurs eine Klassenfahrt nach New York aus Steuergeldern bezahlt bekam. Eine teure Fahrt: 38 000 Euro hatte das Berliner Jobcenter für Flug und Unterkunft bereit gestellt - aufgeteilt auf 15 Schüler aus Geringverdiener-Familien. Der Tagesspiegel hatte zuerst über den Fall berichtet. Danach folgte eine Welle der Entrüstung von Medien, Politikern, Eltern und Verbänden.

Im Zentrum der Kritik steht bis heute Schuldirektor Rainer Völkel. Er hatte den Reiseantrag des Englischlehrers unterschrieben. Mittlerweile ist klar, dass die Klassenfahrt etwa 7000 Euro günstiger ausfiel als veranschlagt, aber auch, dass vier New-York-Fahrer selbst zahlen mussten. Völkel, 60, drohen berufliche Konsequenzen. "Ich habe einen Fehler gemacht", sagt er. Öffentlich verteidigen will er die Fahrt nicht mehr. Aus Angst vor den Reaktionen. "Ich habe der Schulaufsicht die verlangte Erklärung abgegeben", sagt Völkel. "Jetzt warte ich auf eine Entscheidung."

Es ist Mittag geworden. Für ihre Freistunde haben sich Alboss, Ekso und Aziz einen Stehtisch am Kiosk ausgesucht. Zu den Zigaretten gibt es Kaffee. Etwa einen Monat ist es her, seit die drei 18-Jährigen mit den anderen aus New York zurückkamen. Auch wenn es sich ihre Eltern leisten konnten, die Fahrt selbst zu zahlen, wollen sie ihre vollen Namen nicht preisgeben. "Es gab so viele Negativberichte", sagt Alboss, der gerade eine Philosophie-Klausur hinter sich hat. Alboss trägt eine Kombination aus Hemd und Baseballkappe, dazu einen Bartansatz. Er könne kaum begreifen, warum es so einen Aufschrei gegeben hat. "In Berlin verschwenden die Politiker seit Jahren Milliarden Steuergelder, von denen letztlich niemand etwas hat", sagt er. Klar könne so eine Reise nicht jeder machen. "Die meisten von uns hätten New York sonst wahrscheinlich nie gesehen."

Wie der 18-Jährige sehen das wenige. Mit ausgleichender Gerechtigkeit, so Kritiker von SPD, CDU und Linke, habe all dies nichts zu tun. Der Vorwurf vieler Eltern und Lehrer anderer Schulen lautet, das Koch-Gymnasium habe das Berliner Bildungs- und Teilhabepaket ("BuT") für Kinder aus ärmeren Verhältnissen schlicht ausgenutzt. Normalverdiener ohne Anspruch auf BuT bekämen keinen Zuschuss, ihre Kinder könnten im Zweifelsfall nicht mitfahren. Andere Schulen verweisen auf alternative Finanzierungen, etwa durch Stiftungen, Fördervereine oder Organisationen, die Auslandsreisen von Schulen mit Zuschüssen unterstützen. Meist reicht das zwar nicht für New York, mitunter aber für Japan oder China. Je nach Ziel werden an deutschen Schulen pro Schüler im Schnitt zwischen 300 und 700 Euro für Klassenfahrten fällig. Bei der Endabrechnung der Koch-Schule fielen 2100 Euro an.

95 Prozent der Schüler stammen aus Migranten-Familien. Viele haben ein bizarres Amerika-Bild

Um zu verstehen, warum Völkel dem Ganzen dennoch zustimmte, hilft ein Blick in die Vergangenheit. Völkel, der vor 14 Jahren als Direktor in Kreuzberg anfing, erinnert sich noch recht genau an seine erste größere Amtshandlung an der neuen Wirkungsstelle. Es war der 12. September 2001, der Tag nach den Anschlägen in New York. Völkel leitete damals seine erste Schulversammlung. "Es herrschte eine groteske Stimmung in der Aula", erinnert er sich. "Bei vielen hatte ich das Gefühl, dass sie weder bestürzt noch traurig waren."

Schon damals war das Koch-Gymnasium im Herzen von Kreuzberg keine typische Großstadtschule. Von den Schülern, die hier ihr Abitur erlangen wollen, stammen 95 Prozent aus Migranten-Familien, ein Großteil davon mit muslimischem Hintergrund. "Klar merkt man das", sagt auch Ekso, Kurzhaarschnitt, Designerschuhe. Verschwörungstheorien gegen die USA gebe es auf dem Schulhof immer mal wieder, erklärt der 18-Jährige: "Manche sagen, dass an allen Kriegen die Amerikaner schuld sind." Der Deutsch-Türke war mit dabei, als die Gruppe um Englischlehrer Frederik von Elm jenen Ort in Manhattan betrat, wo einst das World Trade Center stand. "Spätestens da hat man gesehen, dass zu einem Krieg mindestens zwei gehören", sagt Ekso heute. "Man muss einfach sehen, dass die USA gegen Terrorismus sind, genauso wie wir Muslime auch."

Eine Zeitung veröffentlicht Fotos der Gruppe mit Einkaufstüten. Botschaft: Shopping-Trip

Es sind Themen wie diese, die von Elm mit seinen Schülern im Unterricht bespricht. Zur Vorbereitung, erzählt der Lehrer, habe seine Klasse amerikanische Klassiker gelesen, darunter "The Great Gatsby". Autor F. Scott Fitzgerald greift darin Themen wie Dekadenz, Ausschweifung und Idealismus auf. Dadurch, sagt von Elm, wollte er seinen Schülern einen kritischen Blick vermitteln. Jetzt muss er sich selbst Vorwürfe gefallen lassen, etwa den der Linkspartei, die Reisekosten seien "unanständig" gewesen. Eine Zeitung veröffentlichte ein Foto, das die Berliner Gruppe mit Einkaufstüten zeigt. Die Aufnahme passte in jenes Bild, das die Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen zeichnete: ein Spaß-Trip auf Staatskosten. Dennoch bleibt von Elm dabei: "Ich bin ich froh, dass mein Leistungskurs die Chance hatte, die Amerikaner selbst kennenzulernen."

Von den 15 Schülern, denen die Reise bezahlt wurde, traut sich bis heute niemand, etwas zu sagen. Auf Wunsch des Direktors soll es dabei vorerst auch bleiben. "Wir wollen nicht mehr für Schlagzeilen sorgen", sagt Völkel, "das wollten wir nie." Die Schüler sollen sich wieder auf den Unterricht konzentrieren. Oder es versuchen.

In diesen Tagen ist das in dem Kreuzberger Ziegelgemäuer gar nicht so einfach. Erst die vielen Reporter, dann die Nachricht von den Anschlägen in Frankreich. An der Koch-Schule soll es jetzt nicht mehr um New York gehen, sondern um Paris, da sind sich Ekso, Aziz und Alboss einig. Im Schulgebäude wird in ein paar Minuten eine Schweigeminute für die Opfer abgehalten. "Wir müssen los", sagen die Schüler und drücken ihre Zigaretten aus.

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