Umgang mit sexuellem Missbrauch:Jenseits von Populismus und Boulevard-Schlagzeilen

Beschämend lange sind die Kinderrechte missachtet worden, nun wird sexualisierte Gewalt als Problem endlich ernst genommen. Der Umgang mit den Fällen Edathy und Odenwaldschule zeigt: Der gesellschaftliche Lernprozess hat Fortschritte gemacht.

Ein Kommentar von Tanjev Schultz

Ist das jetzt Hysterie? In den vergangenen Monaten verging kaum eine Woche, in der die Medien nicht über Pädophile, Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch berichtet haben. Los ging's vor der Bundestagswahl. Da standen die Grünen am Pranger, weil sie sich vor Jahrzehnten mit Leuten eingelassen hatten, die straffreien Sex mit Kindern propagierten (und, wie zu befürchten ist, auch praktizierten).

Dann kam, kaum war die neue Regierung im Amt, der Fall Edathy. Und jetzt, mal wieder, die Odenwaldschule. Wer bei dem Thema unter Verdacht gerät, hat schon verloren: Die Grünen wurden von den Wählern abgestraft. Sebastian Edathy trat als Abgeordneter zurück und verließ erst mal das Land. Die Odenwaldschule muss nicht nur um ihren Ruf, sondern auch um ihre Existenz kämpfen. Sind sie alle Opfer eines Exzesses aus Verdacht und Verfolgung?

Diese Form der Gewalt wird als Problem endlich ernst genommen

Es stimmt leider, dass Öffentlichkeit und Staatsanwälte oft gnadenlos und maßlos sind. Doch so leicht darf man die Empörung über die genannten Fälle nicht beiseitewischen. Beschämend lange sind Kinderrechte missachtet worden, auch und gerade von vermeintlich progressiven Kreisen. Nun gibt es einen Lernprozess.

Sexualisierte Gewalt wird als Problem endlich ernst genommen; sie ist nicht mehr nur ein Thema von ein paar Feministinnen auf der einen Seite oder von reißerischen Boulevard-Schlagzeilen auf der anderen Seite. Es geht auch nicht mehr nur um populistische Parolen ("Wegschließen, und zwar für immer"). Es wächst das Bewusstsein dafür, dass es auf Prävention und auf Hilfe für (potenzielle) Täter und Opfer ankommt. Noch immer fehlen Therapieplätze; glücklicherweise beginnt die Politik allmählich, auf den großen Bedarf zu reagieren.

Konservative haben lange Zeit einseitig auf Repression gesetzt. Viele Liberale und Linke wiederum haben nicht einmal das Problem richtig erkannt. Sie wollten nicht prüde sein, und Rufe nach schärferen Gesetzen waren ihnen verhasst.

Die Reformpädagogik, wie die Odenwaldschule sie vertreten hat, schien so schön zum linksliberalen Lebensgefühl zu passen: keine falsche Scham! Alle duzten sich, und alle duschten zusammen. Die Pädagogen sollten nicht nur Lehrer sein, sondern "Familienoberhäupter". Dann kam das Erwachen.

Ruf der Odenwaldschule ist zerstört

Vor vier Jahren wurde die Missbrauchsgeschichte der Odenwaldschule in all ihren Ausmaßen bekannt. Es war die Zeit, als sich auch die Kirche für ihre übergriffigen Pfarrer entschuldigen musste. Die Bundesregierung reagierte damals, indem sie die Stelle eines Missbrauchsbeauftragten einrichtete. Er tut viel dafür, Betroffenen zu helfen und die Aufmerksamkeit für das Thema wachzuhalten.

Auf die Aufmerksamkeit, die jetzt erneut die Odenwaldschule erfährt, hätte die Schulleitung gewiss gern verzichtet. Ein Lehrer wurde fristlos entlassen, weil er Kinderpornos besessen haben soll. Diese Schule ist eine durch und durch traumatisierte Institution. Ihr Ruf ist zerstört, der neue Vorfall besiegelt den Ruin.

Das Internat hat in den vergangenen Jahren zwar einiges getan, um Übergriffe zu verhindern und schnell auf Grenzverletzungen reagieren zu können. So ziemlich jeder Mitarbeiter, vom Hausmeister bis zur Köchin, ist sensibilisiert worden. Das alles nützt aber wenig, wenn die Schule kein Vertrauen in der Gesellschaft mehr genießt.

Deshalb hilft auch der Hinweis nicht weiter, dass für den Lehrer, gegen den ermittelt wird, die Unschuldsvermutung gilt und noch nicht erwiesen ist, dass er sich wirklich für Kinderpornos interessierte. Bei ihrer Vorgeschichte reicht im Falle der Odenwaldschule bereits der Verdacht, um neues Misstrauen zu erzeugen und das alte Trauma wachzurufen.

Wer sich zu Unrecht verfolgt fühlt, reagiert oft falsch

Verräterisch ist die Sprache, in der die Schulleitung versichert hat, nach derzeitigen Erkenntnissen seien Schüler in dem aktuellen Vorfall "nicht involviert". Die Schule verleugnet damit ja ihren eigenen Anspruch: dass Lehrer und Schüler in einer echten Gemeinschaft leben - wie eine Familie. Selbstverständlich sind die Kinder "involviert", wenn bei einem Familienmitglied die Polizei vor der Tür steht.

Die Schule muss aufpassen, dass sie nicht in Muster des Verharmlosens und Vertuschens zurückfällt. In dem abgeschiedenen Internat entsteht schnell der Eindruck, man müsse sich gegen eine böse Welt da draußen behaupten. Wer sich zu Unrecht verfolgt fühlt, begeht oft die größten Dummheiten.

Sebastian Edathy ist dafür ein Beispiel. Die Nacktbilder, die er kaufte, mögen in Deutschland legal gewesen sein. Dennoch waren es Produkte einer gewerbsmäßigen Ausbeutung von Kindern. Edathy hat versucht, sich mit einem Verweis auf die Kunstgeschichte und die Tradition des Aktbildes zu verteidigen. Die Odenwaldschule hätte schließen - und Edathy schweigen sollen.

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