Türkische Regierung nach dem Grubenunglück:"Solche Unfälle passieren ständig"

Turkey's PM Erdogan visits the coal mine accident site in Soma

Es wirkt, als sei sich die Regierung einer Mitschuld an der Katastrophe bewusst: Ministerpräsident Erdoğan am Mittwoch beim Besuch in Soma, wo Hunderte Bergleute ums Leben gekommen sind.

(Foto: REUTERS)

Strengere Kontrollen des Bergwerks in Soma? Sind überflüssig. Das hat die türkische Regierung erst kürzlich entschieden. Dabei sind die Sicherheitsmängel seit Jahren bekannt. Nach dem schlimmsten Grubenunglück in der Geschichte der Türkei reagiert Ministerpräsident Erdoğan barsch - und muss den Volkszorn fürchten.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Am Mittwochnachmittag tragen sie einen der Retter erschöpft aus der Mine. Der Mann kann kaum sprechen, aber er sagt in eine Kamera des türkischen Senders NTV: "Da unten lebt keiner mehr." Wenn dies stimmt, dann ist das Bergwerksunglück von Soma im Westen der Türkei das schlimmste, das die Republik in den 90 Jahren ihres Bestehens erlebt hat.

Drei Tage Staatstrauer hat Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan schon am Morgen angeordnet, Parlamentssitzungen sind abgesagt, ein offizieller Feiertag für die Jugend ebenso. Der Regierungschef reist nicht nach Albanien, sondern eilt an den Unglücksort. Auch Präsident Abdullah Gül verzichtet auf einen Staatsbesuch in China.

Während in Soma noch mehr als einhundert Minenarbeiter bis zu zwei Kilometer tief unter der Erde vermisst werden, reagiert die politische Führung in Ankara mit eiligen amtlichen Trauerbekundungen, aber auch mit Panik auf eine Katastrophe, welche die gesamte politische Tagesordnung des Landes erst über den Haufen wirft. Eigentlich wollte Erdoğan die Türkei in diesen Tagen mit einem ganz anderen Thema beschäftigen: mit seiner persönlichen Entscheidungsfindung, ob er nun im August als Staatspräsident kandidieren soll oder lieber doch nicht. Denn erstmals wird der Präsident direkt vom Volk gewählt.

Nun lässt Erdoğan am Mittwochmorgen alle Flaggen im Land auf halbmast setzen, die Staatstrauer gilt sogar rückwirkend von Dienstag an, wie es aus Ankara heißt. Aber außer Rettungskräften hat die Regierung bereits am Dienstag, nur wenige Stunden nach der schweren Explosion, auch viele Polizisten in die Unglücksprovinz Manisa beordert. Erdoğan fürchtet offenbar den Volkszorn. Dafür gibt es gute Gründe.

Erdoğan hat zuletzt alles andere als mitfühlend reagiert

Denn noch schneller als die offiziellen Trauerbekundungen sind türkische Twitterer, die daran erinnern, dass die jüngere Geschichte des Landes reich an Bergwerks-Dramen ist, und dass der Premier zuletzt alles andere als mitfühlend auf eine solche Katastrophe reagiert hat.

Im Mai 2010 war das, fast auf den Tag genau vor vier Jahren. Da waren in der Schwarzmeer-Provinz Zonguldak in einer Kohlegrube 30 Tote zu beklagen. Damals erklärte Erdoğan, die Menschen der Region seien "an Unglücke wie dieses gewöhnt". Für die Kohlekumpel seien solchen Dramen Kader, Schicksal. Proteste gegen die angeblich unsicheren Arbeitsbedingungen in der staatlichen Mine nannte Erdoğan eine "Provokation". Die Empörung über diese Worte des Regierungschefs war damals groß. Auch in Soma spricht er Sätze, die viele wütend machen. "Solche Unfälle passieren ständig", sagt er.

Doch nun gibt es noch viel mehr Tote. Am Mittwochvormittag, 18 Stunden nach der Explosion eines Transformators in 400 Metern Tiefe, werden noch sechs Bergleute lebend geborgen. Aber 274 sind bis zum Abend bereits offiziell für tot erklärt. In der Nacht sind im staatlichen Krankenhaus von Soma die Leichensäcke ausgegangen. Energieminister Taner Yıldız, der schon in der Nacht zuvor in Soma ankam, sagte am Morgen, das Feuer unter Tage wüte noch immer. 787 Menschen waren laut Yıldız vor der Explosion in dem Bergwerk. Es waren so viele, weil gerade Schichtwechsel war. 363 wurden bis Dienstagabend gerettet oder schafften es alleine zu Fuß nach oben. Die Aufzüge waren wegen des Brandes ausgefallen. Alle Zeitungen zeigten am Morgen die Bilder der Geretteten, mit rußgeschwärzten Gesichtern, den gelben Grubenhelm im Arm.

Regierung weigerte sich, die Grube in Soma strenger zu kontrollieren

Einen solchen gelben Helm hatte auch der aus Manisa stammende Abgeordnete Özgür Özel von der oppositionellen republikanischen Partei CHP dabei, als er vor etwa 20 Tagen im Parlament ans Pult trat. Özel verlangte, die Mine in Soma müsse wegen immer wieder auftretender Mängel ganz besonders gut kontrolliert werden. Es gibt auf dem Twitter-Konto des Abgeordneten ein Foto von der Szene im Parlament. Darauf sieht man den Mann am Rednerpult, wie er den Helm mit der rechten Hand hochhält - und dahinter auf der Regierungsbank unterhalten sich zwei Minister von Erdoğans konservativ-islamischer AKP angeregt miteinander.

Einer davon ist Justizminister Bekir Bozdağ. Beide würdigen den Redner, der aufzählt, wie viele Unglücke es in Soma bereits gab, keines Blickes. Der Rest der Regierungsbank ist gähnend leer. Das Foto des einsamen Mahners wird am Mittwoch in der Türkei Tausende Mal retweeted. Der Antrag der CHP, Soma strenger zu kontrollieren, war dann von der Regierung abgelehnt worden. In dem Antrag erwähnt die CHP zahlreiche Prüfungen der Mine bis 2012, bei denen Mängel festgestellt und sogar Strafen verhängt worden seien. Die Regierung betonte in einer Antwort, weitere Kontrollen seien nicht nötig.

Wutausbrüche auf Twitter - und auf der Straße

In einem offenen Lastwagen werden am Mittwoch Särge nach Soma gefahren. Auch dieses Bild wird von einem Twitterer verbreitet und sorgt für empörte Kommentare. Arbeiter heben auch bereits einen Massenfriedhof für die "Märtyrer" der Mine von Soma aus, während die Frauen und Mütter der Männer unter Tage noch an den Absperrgittern um den Unglücksort warten. Fernsehbilder zeigen Frauen, die sich in Decken gehüllt haben, sie haben die ganze Nacht ausgeharrt. Viele legen ihre Köpfe erschöpft auf die Polizeigitter.

Im Fernsehen hat schon in der Nacht, während das ganze Land noch auf gute Nachrichten hoffte, ein Experte die Folgen einer Kohlenmonoxid-Vergiftung unter Tage als "süßen Tod" bezeichnet, bei dem die Betroffenen keinerlei Schmerzen spürten. Auch das sorgt für Wutausbrüche in den sozialen Medien. Am Mittwoch gehen in Ankara und Istanbul Tausende empörte Bürger auf die Straßen, in Soma traktieren aufgebrachte Menschen Erdoğans Limousine mit Fußtritten. Am Abend gehen Sicherheitskräfte in Istanbul und Ankara mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vor. In einem Kommentar für die Zeitung Radikal schreibt der bekannte Kolumnist Murat Yetkin: "Dieser Unfall kommt nicht unerwartet, Warnungen wurden in den Wind geschlagen." Yetkin sieht voraus: "Niemand wird sich schuldig bekennen, niemand wird sich entschuldigen, niemand wird zurücktreten."

Die Minen gehören zu den ergiebigsten des Landes. Sie sind im Besitz der privaten Soma Holding. Auf deren Webseite ist in weißer Schrift auf schwarzem Grund zu lesen, dass es sich um einen "traurigen Unfall" handle. Den Familien wird Anteilnahme ausgesprochen. Sich selbst bescheinigt das Unternehmen, "ständig" die höchsten Sicherheitsstandards angewendet zu haben.

"Gewerkschaften sind nur Marionetten"

Das sehen Arbeiter vor Ort anders. "Es gibt hier keine Sicherheit", sagt der Arbeiter Oktay Berrin. "Die Gewerkschaften sind nur Marionetten, und die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld", schimpft der Mann. Der linke Gewerkschaftsbund Disk erklärt das Unglück zu einem "Massaker". Disk-Chef Kani Beko sagt, in Gruben wie in der von Soma seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden außer Acht gelassen: "Es geht nur um den Gewinn."

Einer der Toten soll der erst 15-jährige Kemal Yıldız sein, berichtet Hürriyet. Der Energieminister meinte, dass ein Jugendlicher in der Mine beschäftigt gewesen sei, könne er nicht glauben. Auch die Firma dementierte. Ein geretteter Bergmann indes meinte, in der Grube gebe es viele Schwarzarbeiter.

Ein Staatsanwalt untersucht nun die Unglücksursache. Das bislang schlimmste Grubenunglück in der Türkei geschah 1992 in Zonguldak, mit 263 Toten. Diese Horrorzahl dürfte in Soma übertroffen werden. Der Premier aber redet das neue Drama klein. Nach einem Besuch an der Zeche zieht er einen für die moderne Türkei seltsamen Vergleich. "Ich schaue zurück in die englische Vergangenheit, wo 1862 in einem Bergwerk 204 Menschen starben", sagt Erdoğan und fügt hinzu: "Liebe Freunde, in China sind 1960 bei einer Methangasexplosion 684 Menschen gestorben." Dies dürfte die Menschen in Soma nicht trösten.

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