Trauerhilfe für Eltern:Leben nach dem Tod

Ein Strudel aus Schmerz, Chaos und Sehnsucht: Wenn Kinder sterben, durchleiden Eltern eine fundamentale Erschütterung. Eine Betroffene erzählt, wie sie gelernt hat, damit umzugehen.

S. Pfauth

Die Welt war ihr plötzlich fremd geworden. Andrea Tradt wunderte sich darüber, dass Menschen morgens zur Arbeit gingen. Sie war sogar erstaunt darüber, dass die Sonne aufging. Die Erde konnte sich doch nicht einfach so weiterdrehen, nach dem, was passiert war: Am 28. Juni 2002 waren ihre beiden Kinder im Alter von vier und sechs Jahren beim Spielen im Kinderzimmer tödlich verunglückt. Darüber, wie genau der tragische Unfall verlief, will die 40-jährige Mutter nicht sprechen.

Trauerhilfe für Eltern: Die Trauer um das Kind stellt das Leben der Eltern in Frage: Andrea Tradt hat alles selbst durchlebt und hilft nun Betroffenen.

Die Trauer um das Kind stellt das Leben der Eltern in Frage: Andrea Tradt hat alles selbst durchlebt und hilft nun Betroffenen.

(Foto: Foto: ddp)

Die Rettungskräfte mussten an diesem Tag die Reanimationsversuche ohne Erfolg abbrechen. Andrea Tradt fing an zu schreien und zu toben, lief durch den Garten, immer im Kreis. "Ich war mir in diesem Moment sicher: Jetzt sterbe ich auch."

Das Gefühl, in einer Flut aus Schmerz, Chaos und Sehnsucht zu ertrinken, begleitete sie über Wochen und Monate. Ein Leben nach dem Tod der Kinder war für Andrea Tradt und ihren Mann Alexander einfach nicht vorstellbar. Sie waren untröstlich.

Sechs Jahre sind seitdem vergangen. In der Zwischenzeit sind Amelie und Eva geboren, zwei Mädchen mit blonden Haaren und runden, blauen Augen. Andrea Tradt, ebenfalls blond, silberfarbene Bluse, passende Ohrringe, sitzt am Esstisch aus massivem Holz, vor ihr steht eine Kanne Roibuschtee. Eine schwarze Katze tappst über den Parkettboden. "Unser Leben sieht heute so normal aus: Reihenhäuschen mit Garten, zwei Kinder, genügend Geld", sagt sie. "Aber... da kommt immer ein Aber."

Die eigene Identität steht in Frage

Wenn Kinder sterben, dann bleibt für die Eltern kein Stein auf dem anderen. Die seelische Erschütterung ist fundamental. Das Weltbild, der Glaube, die Werte, die eigene Identität werden in Frage gestellt. "Wenn ein Kind stirbt, stirbt ein Teil der Eltern mit", erklärt der Mainzer Traumatherapeut Dieter Steuer, der sich auf die Begleitung trauernder Eltern spezialisiert hat. "Die Mütter und Väter trauern doppelt: Um ihr Kind und auch um sich selbst, um ihre zerplatzten Lebensträume und ihre Zukunft."

Nach dem Tod von Julia und Tobias konnte Andrea Tradt 14 Tage lang nichts Festes essen, ernährte sich nur von Joghurt und Saft. Sie wusste nicht, wie man sich morgens ordentlich anzieht. War nicht in der Lage, einen Einkaufszettel zu schreiben. Und immer wieder dachte sie darüber nach, ob sie das Unglück nicht hätte verhindern können.

Inzwischen, sagt sie, "habe ich soweit meinen Frieden mit dieser quälenden Frage geschlossen, als dass ich überzeugt bin, dass man seine Kinder niemals hundertprozentig beschützen kann." Sie seien in einem Alter gewesen, in dem jede normale Mutter ihre Kinder auch mal eine halbe Stunde alleine in ihrem Zimmer spielen lasse. Nach dem Unglück machte das Paar schlimme Erfahrungen mit der Sensationslust der Öffentlichkeit: Kamerateams scharten sich um das Haus der Familie, eine Boulevardzeitung veröffentlichte das Sterbebildchen der beiden Kinder. Die Tradts fühlten sich hintergangen und verletzt. Das ist auch der Grund dafür, dass die Mutter in der Öffentlichkeit nicht über den Unfallhergang reden möchte.

Wie der Tod fassbarer wird

Andrea Tradt hält die Todesursache aber auch nicht für besonders wichtig. Manchmal würden sich die Menschen fragen, ob ein Unfall oder eine schwere Krankheit schwerer zu ertragen sei. Ob es schlimmer sei, ein Baby oder einen Teenager zu verlieren.

Es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen, findet sie - weil jeder Tod schrecklich ist: "Für jeden ist sein Unglück das Größte." Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes starben im Jahr 2007 in Deutschland 5362 Kinder und junge Erwachsene vor ihrem 20. Geburtstag. Sie starben durch Krankheiten, Suizide, Verbrechen, Unfälle.

Das Ehepaar Tradt bekam nach dem Tod von Julia und Tobias viel Unterstützung von außen: Mitarbeiter des Kriseninterventionsdienstes, Nachbarn, Freunde und andere betroffene Eltern begleiteten sie durch die Trauer. Brachten Essen vorbei, legten Blumen ans Grab oder saßen mit ihnen auf dem Sofa im Wohnzimmer. "Das Wichtigste war, dass sie dageblieben sind, obwohl man nichts machen konnte", sagt Andrea Tradt. Dass sie die Trauer und Verzweiflung aushielten.

Selbstverständlich ist das nicht: Viele verwaiste Eltern und auch Geschwister machen die Erfahrung, dass Freundschaften zerbrechen, weil sich bisherige Freunde überfordert fühlen oder sich nicht mit dem Thema Tod auseinandersetzen möchten. Trauerbegleiter Dieter Steuer hat das oft beobachtet: "Viele möchten eigentlich gerne helfen, wissen aber nicht wie - und ziehen sich dann zurück."

Hilfe für "verwaiste Eltern"

Inzwischen begleitet Andrea Tradt selbst Eltern, die gerade ein Kind verloren haben.Wichtig ist ihr dabei, den Müttern und Vätern praktische Hilfe und Informationen anzubieten - über Dinge, die sie später nicht mehr nachholen können. Sie sagt den Eltern dann, dass sie ihre Kinder zum Abschiednehmen mit nach Hause nehmen und dort aufbahren dürfen, wenn sie wollen. Dass es wichtig ist, den toten Körper noch einmal zu berühren, damit der Tod fassbarer wird. Und dann ist sie einfach noch da, weil sie weiß, wie gut es tut, nicht alleine zu sein in so einer Situation.

Letztlich ist die Trauer aber trotzdem immer ein sehr einsamer Prozess, sagt Dieter Steuer. Man muss sie selbst durchleben - doch professionelle Betreuung hilft vielen Betroffenen dabei, irgendwann wieder ins Leben zurück zu finden. Die Tradts nehmen bis heute auch an Gesprächsrunden und Wochenenden des Vereins "Verwaiste Eltern" teil, der sich um Familien kümmert, die ein oder mehrere Kinder verloren haben.

Dort können sie sich mit Experten und anderen Betroffenen auszutauschen. Aus ihrer eigenen Erfahrung und diesen Gesprächen hat das Ehepaar gelernt, dass verwaisten Müttern und Väter vor allem eines hilft: Immer wieder über das Kind zu sprechen, auch noch lange Zeit nach dem Tod. "Die Leute sagen: Ich habe Angst, dass ihr traurig werdet, wenn ich das Thema anspreche. Aber für Eltern ist es viel schlimmer, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Kind vergessen wird", erklärt Andrea Tradt.

Der Verlauf der Trauer

Der Umgang mit dem Trauernden ist nicht nur für Außenstehende ein oftmals schwieriger Lernprozess, sondern auch für den Partner. Denn Männer und Frauen trauern unterschiedlich - und die Statistik zeigt, dass es schwer ist, mit dieser Unterschiedlichkeit umzugehen. Viele Ehen überleben die Katastrophe nicht. Amerikanischen Studien zufolge trennen sich 70 Prozent der Paare, die ein Kind verloren haben. Traumatherapeut und Trauerbegleiter Steuer hält diese Angaben aber für übertrieben.

Auch Andrea Tradt mag diese Zahl nicht. Sie mache nur zusätzlich Angst. "Andere Ehen gehen auch auseinander. Wir haben eben versucht, besonders aufeinander zu achten. Gott sei Dank konnten wir immer miteinander reden", sagt Andrea Tradt - reden über die Sehnsucht, die große Traurigkeit und die Verzweiflung, die den Hals zuschnürt. Und über die bohrende Frage, wie es nach dem Tod weitergeht. Heute überlegt sie aber manchmal einen Augenblick, bevor sie ihrem Mann von ihren Gefühlen und Gedanken erzählt: "Ich versuche abzuschätzen, ob er mich im Moment mittragen kann oder ob ich ihn damit aus der Bahn werfe."

Ein Trauernder braucht Geduld

Denn die Trauer nimmt nicht stetig ab. Richtig schlimm wird es oft erst nach zwei oder drei Monaten, erklärt Steuer, dann wird den Eltern die Unumkehrbarkeit des Todes erst deutlich. Danach verläuft die Trauer in Wellen: "Es ist ein permanenter Wechsel von Hochs und Tiefs", sagt der Traumatherapeut, "und der Trauernde und das Umfeld benötigen eine fast unendliche Geduld." Manchmal, sagt Andrea Tradt, zieht die Trauer sie immer noch in die Tiefe wie ein Strudel, nimmt die Luft zum Atmen. Dann tut es wieder so weh wie am Anfang. Dass die Zeit die Wunden heilt, ist ein falsches Versprechen. Dass irgendjemand die toten Kinder ersetzen kann, auch.

Als sie wieder schwanger war, mit Amelie, sagten die Leute: Jetzt kriegt ihr ja ein neues Kind. Dann wird es leichter. Andrea Tradt versteht schon, warum jemand sowas sagt: "Die Menschen wünschen sich das eben, dass unsere Trauer vorbei geht." Dass alles wieder so ist wie früher. "Wir sind aber nicht mehr die, die wir vorher waren", sagt sie. "Und ich liebe Amelie und Eva sehr. Doch den Verlust von Julia und Tobias machen die beiden nicht wett. Sie sind nicht Julia und Tobias."

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