Tierschutz:Zu viel des Guten

9 04 2018 Niedersachsen Langenhagen Der Staffordshire Terrier Mischling ´Chico" steht in einem

"Es verletzt das Rechtsempfinden vieler Menschen, wenn an dem Hund die Todesstrafe vollstreckt wird." Heiko Schwarzfeld, Geschäftsführer des Tierschutzvereins Hannover, besucht Chico in seinem Tierheim-Zwinger.

(Foto: Imago)
  • Tierschützer fordern, Hunden, die Menschen totgebissen haben, eine "Chance auf Resozialisierung" einzuräumen.
  • Diese Vermenschlichung einzelner Tiere sieht eine Tierethikerin in einer Entfremdung des Menschen von der Natur und einem schlechten Gewissen begründet.
  • Die Zahl überreagierender Tierschützer sei gewachsen.

Von Martin Zips

Das sieben Monate alte Baby starb am Montagabend, der Hund hatte ihm im Wohnzimmer der Familie im hessischen Bad König in den Kopf gebissen. Es soll sich um einen Staffordshire-Mischling gehandelt haben. Ein Staffordshire-Terrier, Chico, war es auch, der vergangene Woche in Hannover seinen Besitzer, einen 27-jährigen Mann, und dessen 52-jährige Mutter totgebissen hatte.

Nun überlegen die Behörden, die Hunde einzuschläfern. Doch sie haben die Rechnung ohne die Tierschützer gemacht. Die Online-Petition "Lasst Chico leben!" verfügt schon über mehr als 270 000 Unterschriften. Vor dem Veterinäramt in Hannover protestierten Dutzende mit "Free Chico"-Plakaten. Zuvor hatten Unbekannte versucht, in das Tierheim einzudringen, in dem Chico untergebracht ist. Offenbar, um ihn zu befreien. Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, betonte: "Hunde sind Mitgeschöpfe, die die Chance zur Resozialisierung verdient haben."

Vermenschlichung von Tieren ist Ausdruck einer Entfremdung

Haben sie das? Die Mannheimer Philosophin und Tierethikerin Ursula Wolf erklärt sich die "immer größer werdende Aufmerksamkeit", die Tieren in unserer Gesellschaft zuteil wird, mit dem "schlechten Gewissen", welches beispielsweise durch die moderne Massentierhaltung bei einem Teil der Bevölkerung ausgelöst wird. Dieser Teil versuche dann, das empfundene Schuldgefühl für das tierische Elend durch die Vermenschlichung einzelner Exemplare wettzumachen.

Eine Überreaktion, die letztlich nichts anderes sei als ein Ausdruck der immer größer werdenden Entfremdung von Mensch und Natur - und bei einigen zu der völlig verfehlten Annahme führe, Mensch und Tier seien gleichwertige Lebewesen. Das drückt sich dann zum Beispiel in der Wortwahl aus: "Es verletzt das Rechtsempfinden vieler Menschen, wenn an dem Hund die Todesstrafe vollstreckt wird", sagte beispielsweise Heiko Schwarzfeld, Geschäftsführer des Tierschutzvereins Hannover, im NDR.

Todesstrafe? Für einen Vierbeiner? (Laut Bürgerlichem Gesetzbuch sind auf Tiere "die für Sachen geltenden Vorschriften" anzuwenden, "soweit nicht etwas anderes bestimmt ist".)

"Seit 35 000 Jahren leben Menschen mit Wölfen und Hunden zusammen", erklärt der österreichische Verhaltensforscher Kurt Kotrschal, Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle. "Das ist eine lang gewachsene Freundschaft. Man sollte aber nicht den Fehler begehen, das Hundewohl über das Menschenwohl zu stellen." Kotrschal rät in Fällen wie in Bad König oder Hannover, "nicht lange rumzufackeln", sondern die Hunde einfach einzuschläfern. Das sei auch aus Tierschutzgründen sinnvoll, "schließlich leidet auch ein Hund darunter, ein Leben lang weggesperrt zu sein".

2000 gab es solche Debatten noch nicht

Im Jahr 2000 wurde noch nicht laut darüber diskutiert, ob den beiden Staffordshire-Mischlingen, die auf einem Hamburger Schulhof den sechsjährigen Jungen Volkan zerfleischt hatten, statt einer "Todesstrafe" die "Chance auf Resozialisierung" zuzubilligen sei. Die Hunde wurden erschossen. Seitdem, so erscheint es, ist die Zahl der "überreagierenden Tierschützer", wie sie die Philosophin Wolf nennt, größer geworden. Anders übrigens als die Zahl der deutschen Haushalte, in denen ein Hund gemeldet ist: Sie liegt laut diversen Statistiken seit Jahren kontinuierlich bei etwa acht Millionen. Anstiege gab es bei den Haushalten, in denen zwei oder mehr Hunde leben (zuletzt rund 1,7 Millionen). Auch sei ein Trend zum Gewalthund festzustellen, wie Verhaltensforscher Kotrschal bemerkt. Das sei dann aber eher "ein soziales Problem".

Nach Volkans Tod wurden in Deutschland die Gesetze zur Haltung gefährlicher Hunde verschärft. Doch weiterhin scheinen Pitbull-Terrier, Bullterrier, Staffordshire-Bullterrier, American Staffordshire-Terrier sowie der anatolische Hirtenhund Kangal in manchen Gegenden ein beliebtes Statussymbol zu sein. Wer - je nach Bundesland - über eine entsprechende Erlaubnis verfügt und sich und sein Tier hat prüfen lassen, der darf damit auch spazieren gehen.

Pitbull, Staffordshire, Kangal - sie gelten bei manchen als Statussymbol

Chico und sein Halter sollen den Behörden bereits im Jahr 2011 aufgefallen sein. Ein "Haltungsverbot" wurde nicht ausgesprochen. In Deutschland sterben jährlich etwa vier Menschen an Hundeangriffen, weit mehr werden verletzt. Das Statistische Bundesamt zählte von 1998 bis 2015 rund 64 Todesopfer.

Bei Tierschützern beliebt ist das Argument, es sei ja nicht das Tier, sondern der Mensch, der böse sei. Deshalb dürfe das Tier auch nicht bestraft werden. Zudem sei, wie eine Tierärztin der Nachrichtenagentur dpa versicherte, ein "Staffordshire-Terrier auch nicht gefährlicher als ein Labrador". "Unsinn", meint Verhaltensforscher Kotrschal. "Es gibt unterschiedliche Rassen mit unterschiedlicher Genetik, die aus unterschiedlichen Gründen gezüchtet worden sind. Staffordshire geraten - anders als andere Rassen - schneller außer sich und wurden darauf getrimmt, beim Zubeißen nicht loszulassen." Zudem: Sie sind sehr kräftig. Für den Hamburger Hundehalter, seine Mutter und das Baby aus Bad König endete das tödlich.

Bevor die Frage geklärt ist, ob Chico nun eingeschläfert wird oder nicht, soll er im Tierheim mit Medikamenten versorgt werden. Veterinäre haben an seinem Kiefer eine "schmerzhafte Umfangsvermehrung" festgestellt. Womöglich ein Tumor. Dagegen muss was getan werden. Das Tier ist ja der beste Freund des Menschen.

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