Therapeutin über Idealbilder und realen Sex:"Wir stecken voller Hemmungen"

Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann über die Frage, warum viele Frauen mit dem Leistungsdruck in einer sexualisierten Gesellschaft nicht zurechtkommen.

Tanja Rest

"Von einem wirklich selbstbestimmten, lustvollen Leben sind viele Frauen weit entfernt." Kann das sein? Wo Sexualität heutzutage so frei gelebt wird wie nie, jedenfalls dem Anschein nach? Der Satz findet sich in dem Buch "Untenrum...Die Scham ist nicht vorbei", das in diesen Wochen für Aufsehen sorgt.

Therapeutin über Idealbilder und realen Sex: Eine Ordensschwester geht an einem Werbeplakat für Damenunterwäsche während des 95. Katholikentags in Ulm vorbei.

Eine Ordensschwester geht an einem Werbeplakat für Damenunterwäsche während des 95. Katholikentags in Ulm vorbei.

(Foto: Foto: dpa)

Die Journalistin und Psychotherapeutin Claudia Haarmann, 54, hat sehr intime Berichte von Frauen im Alter von 20 bis 70 Jahren aufgezeichnet und ist dabei zu dem Schluss gekommen: Es gibt sie noch, die Scham. Dass die Autorin mit dieser These offenbar einen Nerv getroffen hat, erlebt sie derzeit auf ihrer Lesereise: Die Ränge sind voll, das Echo ist gewaltig, nicht nur bei Frauen. Wir sprachen mit Claudia Haarmann über Idealbilder und realen Sex.

SZ: Frau Haarmann, der öffentliche Raum ist mit nackten Körpern tapeziert, im Fernsehen werden die abwegigsten Perversionen im Detail verhandelt. Nun kommen Sie und behaupten: Die Scham ist nicht vorbei.

Haarmann: Es ist bestimmt eine unzeitgemäße These. Die meisten Frauenzeitschriften würden dieses Buch nicht behandeln, denn bei denen gibt's kein Sexproblem. Da gibt es nur die Perspektive, wie guter Sex läuft. Machen wir's oral, anal, von vorne oder von hinten? Und damit sagen sie: Das musst du erreichen, dann bist du in Ordnung. Viele Klientinnen, die zu mir in die Praxis kommen, sind aber unzufrieden. Aktuelle Studien besagen, dass sich rund 40 Prozent der Frauen als sexuell gestört empfinden und Stress mit der Sexualität haben.

SZ: Wo kommt der Stress Ihrer Meinung nach her?

Haarmann: Meine These ist, dass die sexuelle Revolution einerseits Befreiung gebracht hat: Wir dürfen heute Ja sagen und auch Nein. Andererseits: Ohne Tabu ist man nicht gleich freier. Eine 49-Jährige hat das mir gegenüber so formuliert: "Du willst was anderes, aber du hast nicht gelernt, wie und was." Viele haben das Gefühl, gerade mit Blick auf die Medien: Alle anderen leben eine befreite Sexualität, nur bei ihnen selbst läuft's nicht so. Und dieses Gefühl erzeugt Scham.

SZ: Die beliebtesten Defizite, die Frauen an sich wahrnehmen?

Haarmann: Das wissen Sie genauso gut wie ich. Wie sehe ich aus? Bin ich zu dick, hab' ich eine Orangenhaut? Hängt mein Busen, wenn ich eine bestimmte sexuelle Position einnehme? Wir wissen, dass viele Frauen bestimmte Sexualpraktiken meiden, weil das nicht mit ihrem Körperbild übereinstimmt.

SZ: Sie finden, viele schauen zu sehr von außen auf sich?

Haarmann: Ich glaube, dass die Kluft zwischen dem, was die sexualisierte Gesellschaft an perfekten Bildern bietet, und dem, was im Inneren erlebt wird, immer größer wird. Und so offen im Fernsehen alle über Sexualität reden: Viele Menschen sind mit ihrem Partner da nicht wirklich im Gespräch. Wir stecken voller Hemmungen. Man möchte gerne was, kann es aber nicht formulieren.

SZ: Trotzdem: Senkt das öffentliche Reden über Sex nicht auch im Privaten die Hemmschwelle?

Haarmann: Das Gegenteil ist der Fall. Es wird der Thrill beim Sex postuliert, die Grenzerfahrung. Es wird postuliert, dass wir in einer Gesellschaft leben, die so frei ist wie noch nie. Die Frauen, mit denen ich geredet habe, sind aber ganz woanders. Wir können auch nicht ernsthaft annehmen, dass innerhalb einer Generation nach '68 all das, was früher nicht lebbar war, überwunden sein kann.

SZ: Was ist mit den heute 18-Jährigen, sind die denn freier?

Haarmann: Eher nein. Ich glaube, dass gerade Jugendliche dieses ästhetische Idealbild in sich haben, und wer diesem Ideal nicht entsprechen kann, leidet unter massivem Stress. Natürlich gibt es auch die jungen Frauen, die selbstbewusst und sehr klar sind; bei denen die Idee von Selbstbestimmung funktioniert. Aber ein ganz großer Teil der jungen Mädchen ist durch ein Idealbild fremdbestimmt.

"Wir stecken voller Hemmungen"

SZ: Wie äußert sich das?

Therapeutin über Idealbilder und realen Sex: Die Psychotherpaeutin Claudia Haarmann hat sehr intime Berichte von Frauen im Alter von 20 bis 70 Jahren aufgezeichnet

Die Psychotherpaeutin Claudia Haarmann hat sehr intime Berichte von Frauen im Alter von 20 bis 70 Jahren aufgezeichnet

(Foto: Foto: SZ)

Haarmann: Unsere Mütter-Generation hatte ja noch die Vorstellung, dass Sexualität eigentlich Männersache sei - nach dem Motto: Ich tu's, aber vor allem für ihn. Wenn ich nun mit jungen Frauen unter zwanzig rede, dann sagen die: "Ich habe zum ersten Mal mit meinem Freund geschlafen, denn der wollte das unbedingt. Und ich hab' einfach Angst gehabt, der würde sich 'ne andere suchen, wenn ich das nicht mitmache." Mädchen haben eine rosarote Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit. Wenn sie aber mit dem Wunsch nach Sex konfrontiert werden, gehen sie über dieses innere Gefühl immer wieder hinweg.

SZ: Sind Jugendliche heute nicht aufgeklärter denn je?

Haarmann: Natürlich findet Aufklärung statt, allerdings meistens in der Richtung, wie man es vermeidet, schwanger zu werden. Über die Lust sprechen Mütter und Töchter nicht. Es gibt nach wie vor Hemmungen, wirklich über Sex zu reden.

SZ: Es scheint insgesamt Offenheits-Defizite zu geben beim Sex. Was sagen Sie zur so genannten "Orgasmus-Lüge"?

Haarmann: Der Orgasmus ist für uns wie eine heilige Kuh geworden. Jeder muss da hin. Was machen denn die vielen Frauen, die keinen Orgasmus bekommen? Was passiert mit denen, die eine halbe Stunde brauchen, um überhaupt erst mal ein Lustgefühl zu verspüren? Die täuschen den Höhepunkt notfalls vor. Laut einer Studie der Berliner Charité haben das 90 Prozent aller Frauen schon einmal gemacht. Weil sie glauben, dieser Orgasmus wird von ihnen erwartet.

SZ: Dem Partner zuliebe?

Haarmann: Genau, damit der das Gefühl hat: Ich befriedige meine Partnerin.

SZ: Schätzen Frauen die Männer denn da richtig ein?

Haarmann: Sehr oft nicht. Ich glaube, dass viele Vorurteile mit im Spiel sind. Zum Beispiel dieses Bild, dass Männer eigentlich immer wollen. Meine Erfahrung ist, dass sehr viele Männer froh sind, wenn sie mal nicht müssen. Den immer potenten Lover geben sie, weil sie meinen, das müsse so sein. Auch die Männer stehen unter Druck, um der Frau diesen Höhepunkt zu bereiten.

SZ: Sie zitieren eine niederländische Studie, die besagt, dass tatsächlich nur 30 Prozent der Frauen beim Geschlechtsverkehr zum Orgasmus kommen.

Haarmann: Wir halten das ja immer noch für den Ausdruck höchster Liebe, beim Geschlechtsverkehr mit dem Mann einen Orgasmus zu erleben. Das ist bei sehr vielen Frauen aber physiologisch gar nicht möglich; zumindest nicht ohne einen Riesenaufwand von Tricks.

SZ: Die man dann in der Ratgeber-Literatur nachlesen kann.

Haarmann: Es gibt wirklich immer mehr Sex-Ratgeber, darunter auch sehr gute Bücher. Aber Ratgeber knüpfen da an, wo man sich defizitär fühlt. Nach der Devise: Sie haben ein Manko, hier sind drei gute Tipps. So einfach ist es nicht. Viele dieser Bücher verstärken eher noch das Gefühl: So wie da beschrieben läuft es bei mir nicht, also bin ich nicht okay.

SZ: Müssen Frauen beim Sex vielleicht einfach egoistischer werden?

Haarmann: Auf der einen Seite sicher. Aber es geht doch in erster Linie mal darum, herauszufinden: Was macht mir Druck? Was ist mein eigentlicher Wunsch? Es würde auch nicht schaden, wenn wir ab und zu mal wieder auf unseren Körper hören würden. Alle Leistungskriterien zum Thema Sex finden ja im Kopf statt. Aber der Körper lügt nicht. Der weiß genau, was er braucht.

SZ: Was denn?

Haarmann: Ich hatte mal den Fall einer Frau Ende vierzig, die seit vielen Jahren mit ihrem Mann keinen Sex mehr hatte. Was übrigens nicht untypisch ist für langwährende Beziehungen. Sie hatte große Sehnsucht nach Körperlichkeit, aber Angst davor, die Initiative zu ergreifen, weil sie befürchtete, ihr Mann sei nicht mehr so potent. Sie wollte ihn nicht in eine peinliche Situation bringen. Ich habe gesagt: Wie wäre es, wenn Sie mit Ihrem Mann darüber reden und sich morgens einfach zusammenlegen, ohne irgendwas zu tun. Nach einer Woche hat sie mich angerufen, und die beiden hatten zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander geschlafen.

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