Tagesmütter in Deutschland:Eine Ausbildung in hundert Stunden

Die Zahl der Tagesmütter in Deutschland soll steigen - viele von ihnen sind allerdings nicht ausreichend qualifiziert.

Felix Berth

Natürlich, es ist ein Einzelfall. Der 13 Monate alte Christopher Karl starb im September 2008 bei seiner Tagesmutter, weil sie das Schreien des kleinen Jungen nicht mehr aushielt und ihn so heftig schüttelte, dass er tödliche Gehirnverletzungen erlitt. In vielen anderen Fällen machen Eltern gute Erfahrungen mit Tagesmüttern, die oft flexibel sind, liebevoll und häufig routiniert. Doch der Münchner Einzelfall wirft auch eine Reihe von Fragen auf: Wie qualifiziert sind Tagesmütter im Normalfall eigentlich? Wer sorgt für ihre Ausbildung? Werden sie in den nächsten Jahren zum billigen Ersatz für die teuren Kinderkrippen? Und wie könnte aus dem heutigen Nebenjob von Hausfrauen ein einigermaßen professioneller Beruf werden?

Tagesmütter in Deutschland: Eine Tagesmutter hat ihr einjähriges Kind zu Tode geschüttelt: Natalie und Josef Karl aus München.

Eine Tagesmutter hat ihr einjähriges Kind zu Tode geschüttelt: Natalie und Josef Karl aus München.

(Foto: Foto: Heddergott)

Die Pläne der Bundesregierung sind ambitioniert. Was im Alltag als "Krippenausbau" bezeichnet wird, ist auch ein massiver Ausbau der Tagespflege. So sollen spätestens im Jahr 2013 mehr als 700.000 Kinder unter drei Jahren "in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege" betreut werden. Das sieht das Kinderförderungs-Gesetz vor, das der Bundestag verabschiedet hat. 30 Prozent der Kinder, also mehr als 200000, sollen bei Tagesmüttern untergebracht werden - derzeit sind es nur wenige zehntausend. Die Zahl der Tagesmütter würde damit auf mehr als 100000 steigen - ein neues Berufsfeld wäre entstanden. Um die Dimension zu verdeutlichen: Friseure gibt es in Deutschland etwa doppelt so viele.

Allerdings gibt es einen Unterschied: Der Friseur braucht eine Ausbildung, die Tagesmutter nicht. Zwar hat heute immerhin ein Drittel der Tagesmütter irgendeine pädagogische Qualifikation. Doch mehr als die Hälfte hat einen anderen Beruf gelernt - und mehr als 15 Prozent der Frauen haben gar keine Ausbildung, wie das Deutsche Jugendinstitut (DJI) festgestellt hat. Wenn Eltern sich also so verhalten, wie es Politiker vorsehen, werden sie in den nächsten Jahren zehntausende Kleinkinder in die Hände von Frauen geben, die keinen pädagogischen Beruf erlernt haben, sondern ihre Kompetenzen oft nur im Umgang mit den eigenen Kindern erworben haben.

Knapp 400 Euro monatlich

"Tagespflege ist immer noch ein schlecht bezahltes Arbeitsfeld für wenig qualifizierte Frauen, weil man sagt: Die müssen ja nur kleine Kinder betreuen", sagt DJI-Chef Thomas Rauschenbach. Zwar nennt das neue Bundesgesetz die "qualitative Verbesserung der Tagespflege" als Ziel. Doch den Weg verschweigt das Gesetz - ihn müssten die Bundesländer festlegen. Sie sind jedoch bisher mit preiswerten Lösungen zufrieden.

Der Freistaat Bayern zum Beispiel verlangt von Tagesmüttern einen Kurs, der insgesamt hundert Stunden dauert. Wer diese Mini-Fortbildung absolviert hat, kann über das Jugendamt abrechnen, erhält einen Zuschuss zur Rente und verdient für jedes Kind, das 40Stunden wöchentlich betreut wird, knapp 400 Euro monatlich.

Hundert Stunden Kurszeit in Bayern, 120 in Baden-Württemberg, 160 nach einem Muster-Lehrplan des DJI - das ergibt in der Praxis ein paar Seminartage und einige Stunden Abendunterricht. Nicht einmal in der Krankenpflege, wo ebenfalls viel unqualifiziertes Personal beschäftigt wird, sind die Standards so niedrig. Deshalb können die Kurse viele Themen nur antippen. So sieht das DJI-Curriculum gerade mal eine Abendveranstaltung zum Thema "Bevor der Kragen platzt - Umgang mit Wut" vor.

Doch die Ambitionen der Länder sind gering. Auch Städte und Gemeinden wollen die Standards nicht heben, sondern eher von den niedrigen profitieren: "Die Kommunen haben das Sparpotential der Tagespflege entdeckt", sagt Jutta Hinke-Ruhnau vom Bundesverband Kindertagespflege. Denn inzwischen ist Bürgermeistern und Kämmerern klar, dass sämtliche Eltern ab August 2013 einen Rechtsanspruch auf Betreuung ihrer Kleinkinder haben.

Kommunalpolitiker, die sparen wollen (oder wegen ihrer Schuldenlast sparen müssen), können sich ausrechnen, dass eine neue Kinderkrippe viel Geld kostet, während Tagesmütter wesentlich billiger sind: Erstens erledigen sie den Job in der eigenen Wohnung, zweitens sind sie schlechter bezahlt als Erzieherinnen. Und Kommunalpolitiker, die das Thema bis zum Jahr 2013 nicht anpacken, könnten dann noch hoffen: Zehn Tagesmütter sind schneller engagiert als eine Krippe gebaut.

An Kinderkrippen orientieren

Ändern würde sich das nur, wenn sich das Berufsbild samt Qualifikation und Einkommen wandelte. Wenn also aus dem Nebenjob für die Ehefrau ein Beruf würde, der erstens eine solide Ausbildung verlangt, wofür - zweitens - ein angemessener Lohn gezahlt wird. Thomas Rauschenbach vom DJI fordert deshalb eine Bezahlung, die sich am Personal in den Krippen orientiert: Eine Tagesmutter, die ein Kind betreut, bekäme dann ein Viertel dessen, was die Mitarbeiterin einer Kinderkrippe erhält, die für vier Kinder verantwortlich ist.

Das hätte den Vorteil, dass das Sparpotential der Tagespflege weitgehend verschwunden wäre - sie könnte sich in den nächsten Jahren nicht zur Billig-Variante der Kinderkrippe entwickeln. Doch sehr realistisch ist das nicht: "Ich fürchte eher, dass der schnelle Ausbau der Kinderbetreuung in den nächsten Jahren zu Lasten der Qualität geht", sagt Rauschenbach.

Aber selbst wenn der Staat nachrüsten würde, bliebe ein grundsätzliches Dilemma: Zwar hat die Tagespflege prinzipielle Stärken, weil sie unbürokratisch und persönlich ist. Doch ihre Schwäche bleibt, dass sie von außen kaum einsehbar und kontrollierbar ist.

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