Syrien:"Manche Kinder wollen lieber sterben, als so weiterzuleben"

Syrien: Nach einem Luftangriff in Aleppo am 11.Oktober: Jedes Kind hier weiß, wie es reagieren muss, wenn Bomben fallen, erzählt Katharina Ebel vom SOS-Kinderdorf.

Nach einem Luftangriff in Aleppo am 11.Oktober: Jedes Kind hier weiß, wie es reagieren muss, wenn Bomben fallen, erzählt Katharina Ebel vom SOS-Kinderdorf.

(Foto: AFP)

Scharfschützen auf dem Schulweg und Panzer vor der Tür: Die Nothilfekoordinatorin für die SOS-Kinderdörfer in Syrien erzählt, wie die Kinder unter dem Krieg leiden.

Interview von Anna Fischhaber

Gerade haben Russland und Syrien eine Feuerpause für Aleppo angekündigt. Wieder einmal. Wird sie diesmal länger anhalten? Allein seit der kurzen Waffenruhe im September sollen knapp 150 Kinder bei Luftangriffen auf die Stadt ums Leben gekommen sein. Während die Großmächte darüber streiten, wer schuld daran ist, dass weiter Bomben auf Syrien fallen, leiden sie am meisten unter den Schrecken des Krieges: die Kinder. Viele haben ihre Familien verloren, leben auf der Straße, leiden Hunger, sind völlig verstört. Katharina Ebel arbeitet als Nothilfe-Koordinatorin für die SOS-Kinderdörfer in Syrien und hat das Land drei Mal besucht - zuletzt vor drei Wochen.

SZ: Wie sieht der Alltag der Kinder in Syrien derzeit aus?

Katharina Ebel: Erst einmal normaler, als man denkt. Auch im umkämpften Aleppo gehen Kinder in den Kindergarten, in die Schule. Allerdings immer unter Lebensgefahr. Jedes Kind dort weiß, wo es im Zickzack laufen muss, weil Heckenschützen lauern. Oder wie es reagieren muss, wenn Bomben in unmittelbarer Nähe fallen. Nämlich: auf den Boden schmeißen, Mund auf, Augen und Ohren zu.

Wie halten Kinder das aus?

Das habe ich meinen Kollegen auch gefragt, der mit seiner Familie in Aleppo lebt. Seine sechsjährige Tochter hat den Krieg immer gut weggesteckt. Bis kürzlich eine Rakete neben ihrem Kindergarten einschlug. Seitdem will sie dort nicht mehr hin. Sie bekommt Panik, wenn sie Bomben hört. Und Bomben hört man in Syrien oft. Vielen Kindern geht es so: Je länger der Krieg dauert, desto traumatisierter sind sie. Man sieht ihnen das oft nicht sofort an. Sie lachen, sie spielen, sie verstecken sich nicht in einer Ecke oder weinen die ganze Zeit. Aber was unter der Oberfläche schwelt, ist dramatisch. Das geht von Traurigkeit über Depressionen bis hin zu Suizidgedanken. Manche Kinder wollen lieber sterben, als so weiterzuleben. Wenn ein Elfjähriger versucht, sich umzubringen, ist das schon krass.

Können Sie den Kindern helfen?

Natürlich gibt es Grenzen. Neulich hat in unserer Nothilfeunterkunft in Damaskus ein Junge versucht, einen anderen umzubringen. Dessen Vater hatte den Vater des Jungen ermordet. Wenn Kinder ihre Eltern verloren haben, wenn sie monatelang auf der Flucht waren und auf der Straße gelebt haben, haben sie oft Erfahrungen gemacht, die kein Kind machen sollte. Sie werden hart, weil sie ans Überleben denken müssen und dann kommen wir und sagen: Jetzt wird alles gut. Das funktioniert natürlich nicht immer. Aber wenn wir Glück haben, schaffen wir es, sie wieder zu begeistern, ihnen wieder Mut und Stabilität zu geben. Wir müssen dafür sorgen, dass sie zur Schule gehen können und betreut werden. Tun wir das nicht, befürchten Psychologen, dass es vor allem nach dem Krieg vermehrt zu Suiziden kommen könnte.

Wie arbeiten Sie mitten im Krieg?

Unser Kinderdorf in Damaskus ist gerade evakuiert worden. Als die Kämpfe immer näher kamen, haben wir entschieden: Wir müssen jetzt da raus. Die Armee tauchte dann relativ schnell im Kinderdorf auf, wir hatten zwei Stunden, um unsere Sachen rauszuräumen, dann wurde ein Panzer im Garten stationiert. Die Kinder wohnen jetzt in Notunterkünften. In Aleppo haben wir bereits 2012 unser Kinderdorf evakuiert. Inzwischen haben wir nur noch Nothilfekitas am Stadtrand, in denen die Kinder mal einen Vormittag sicher spielen können. Außerdem versorgen wir 2500 Familien - mit Nahrung und Babymilch beispielsweise.

Was für Kinder kommen zu Ihnen?

Kinder, die ihre Familie verloren haben. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Wir betreuen beispielsweise einen 15-Jährigen, der ein Massaker miterlebt hat. Er hat gesehen, wie seine Eltern ermordet wurden. Dann kam er in ein Gefängnis - einfach weil niemand wusste, wohin mit ihm. Zwei Jahre lang war er dort. Nur durch Zufall hat eine Ministerin von seiner Geschichte gehört und ihn zu uns gebracht. Aber auch ganz kleine Kinder kommen zu uns: Als ich jetzt in Syrien war, wurde ein dreimonatiges Baby im Büro abgeliefert. Soldaten haben das Kind gebracht, es muss furchtbar Hunger gehabt haben, es war ganz dreckig, hatte überall Brandwunden. Von Zigaretten. Aber es hat nicht geschrien. Normalerweise schreit ein Säugling in so einer Situation, dieses Baby nicht. Es war ganz still.

"Die älteren Kinder wollen fast alle kämpfen"

Katharina Ebel

Katharina Ebel kümmert sich als Nothilfekoordinatorin um die Sicherheit der SOS-Programme in Syrien.

(Foto: PatrickWittmann.com; SOS-Kinderdörfer weltweit/Patrick Wittmann)

Was ist mit der Mutter passiert?

Wir konnten herausfinden, dass sie das Baby bei einer Nanny abgegeben hat und einfach nicht mehr zurückgekommen ist. Auch das ist eine Folge des Krieges: Eltern sind nicht mehr in der Lage, ihre Kinder zu versorgen. Sie schaffen ganz einfache Dinge nicht mehr, die Kinder anzuziehen oder zu füttern. Sie sind von den Schrecken des Krieges abgestumpft, sie fühlen nichts mehr. Ich klage niemanden an, im Gegenteil. Ich befürchte nur, dass hier eine Generation heranwächst, in der viele keine Liebe der Eltern mitbekommen, in der viele Entwicklungsstörungen haben oder entwickeln.

Psychologen sprechen von einer verlorenen Generation.

Das klingt so hoffnungslos. Ich glaube nicht, dass alle syrischen Kinder traumatisiert sind. Es gibt Gegenden in Damaskus, da merkt man nichts vom Krieg. Da gehen die Familien abends Eis essen. Nur die Geräusche sind seltsam. Es klingt wie ein schweres Gewitter, aber das sind die Luftangriffe. In anderen Gegenden der Stadt gibt es Häuserkämpfe, da ist nichts mehr, wie es einmal war.

Wie geht es den Kindern dort?

Wenn ein Kind vertrieben wird und von heute auf morgen alles verliert, was bis dahin seinen Alltag ausgemacht hat, dann vergisst es das nicht. Ein Symptom von Stress ist, dass das Erinnerungsvermögen nachlässt. Viele unserer Kinder sind nicht mehr aufnahmefähig, weil ihre Traumata alles überlagern. Sie überlagern das Erleben, sie machen sie gefühllos oder sogar aggressiv, andere reagieren mit Depressionen. Bei Kriegstraumata rechnen Psychologen damit, dass sich 40 Prozent der Betroffenen nicht mehr davon erholen. Diesen Kindern zu helfen, ist unglaublich schwer. Es braucht eine Mannschaft an Psychologen. Und die müssen an die Kinder in den umkämpften Gebieten herankommen. Solange der Krieg anhält, ist das kaum möglich.

Haben Sie Angst, dass solche Kinder in die Hände von Extremisten geraten könnten?

Dass jemand zum IS gegangen ist, habe ich bislang nicht mitbekommen. Aber ich schließe das nicht aus - wir wissen nicht, was mit Kindern passiert, die nicht bei uns bleiben wollen. Armut und ein Mangel an Bildung sind natürlich ein Nährboden für Fanatismus. Die älteren Kinder wollen fast alle kämpfen. Für die Rebellen oder für die Regierung, je nachdem wo sie eben herkommen. Es ist schwierig, etwas dagegen zu tun. Die meisten Kinder sind aber schnell geheilt, wenn sie einmal an der Front waren. Sie wollen dann nur noch weg. Leider können gerade diese Erfahrungen tiefe seelische Verletzungen hinterlassen.

Wer arbeitet in einem umkämpften Gebiet wie Aleppo noch für Sie?

Für Ausländer ist es längst zu gefährlich, unsere Mitarbeiter dort sind alle Syrer. Sie kommen aus Aleppo, sie haben dort ihre Netzwerke, ihre Familie, sie wissen, wo sie sich bewegen können. Für sie ist das Leben gefährlich, egal ob sie helfen oder nicht. Eine Mitarbeiterin und die Frau des Teamleiters haben gerade ein Kind bekommen. Als sie schwanger waren, habe ich immer wieder gefragt: Warum geht ihr nicht? Aber sie wollen nicht. Oft hängt eine Familie dran, eine kranke Oma, die nicht weg kann. Und viele sagen: Lieber sterbe ich hier, als ein Leben als Flüchtling zu führen.

Ist es für die Menschen in Syrien wichtig, wer schuld am Krieg ist?

Schuldzuweisungen helfen wirklich niemandem. Ich wünschte, bei den Verhandlungen würde man den Menschen aus Syrien mehr zuhören. Zuhören, was sie erleben. Was ihre Kinder erleben. Für sie ist es völlig uninteressant, wer angefangen hat. Wichtig ist es, diesen Krieg zu beenden, eine Lösung zu finden. Viele Syrer wollen nicht mehr. Kaum mehr jemand weiß noch, für was er eigentlich kämpft. Ich glaube, dass wissen nicht einmal mehr die Kriegsparteien. Die Regierung will gewinnen, klar. Aber die Menschen? Sie sind einfach nur müde.

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