Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 33: Zickzackkind von David Grossmann

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Der Zug blies sein Signal und setzte sich in Bewegung. Ein Junge stand in einem der Waggons am Fenster und sah den Mann und die Frau an, die ihm vom Bahnsteig winkten, der Mann mit einer Hand, knapp und verstohlen, die Frau mit beiden Armen und einem riesigen, roten Tuch. Der Mann war der Vater des Jungen, und die Frau war Gabriella, besser gesagt, sie war Gabi.

Der Mann trug eine Polizeiuniform, denn er war Polizist. Die Frau trug ein schwarzes Kleid, denn Schwarz macht schlank. Auch Kleider mit Längsstreifen sind vorteilhaft. "Aber was die beste Figur macht", pflegte Gabi zu lachen, "ist neben jemandem zu stehen, der dicker ist als ich, aber dem bin ich noch nicht begegnet." Der Junge am Zugfenster, der abfuhr und sich von den beiden entfernte, sie betrachtete wie ein Bild, das er niemals wiedersehen würde - war ich. Nun würden sie zwei Tage lang allein sein, dachte ich. Alles war verloren. Der Gedanke daran verfing sich in meinem Haar und zog mich weiter und weiter aus dem Fenster. Vaters Mund begann sich zu jener Grimasse zu verzerren, die Gabi die letzte Verwarnung nannte. Was ging es mich an. Wenn er sich wirklich um mich sorgte, sollte er mich nicht für zwei Tage nach Haifa schicken, ganz davon zu schweigen, zu wem. Auf dem Bahnsteig pfiff ein Mann in Eisenbahneruniform mit einer schrillen Trillerpfeife in meine Richtung, während er mir mit rudernden Armen Zeichen machte, den Kopf zurückzuziehen. Dass Männer mit Schirmmützen und Trillerpfeifen immer wieder gerade mich ausmachen mussten, sogar in einem besetzten Zug! Ich zog ihn nicht zurück. Im Gegenteil. Vater und Gabi sollten mich bis zum letzten Moment vor Augen haben. Sollte ihnen das Kind nur im Gedächtnis bleiben! Der Zug rollte noch durch den Bahnhof. Langsam fuhr er durch Wellen heißer, schwerer Luft und den Geruch nach Diesel. Neue Gefühle stiegen in mir hoch. Der Duft der weiten Welt. Freiheit. Ich fahre weg! Ich bin allein! Ich hielt eine Wange hin, dann die andere, ließ mir vom warmen Wind das Gesicht streicheln, wollte seinen Kuss loswerden. Noch nie hatte er mich so vor allen Leuten umarmt. Was küssste er mich, um mich dann wegzuschicken? Nun trillerten mir schon drei Pfeifen den Bahnsteig entlang hinterher. Ein Orchester hatte ich mir bestellt. Weil Vater und Gabi nicht mehr zu erkennen waren, zog ich meinen Oberkörper zurück, gleichgültig und ohne Eile, um klarzustellen, dass ich auf die Trillerpfeifen pfiff. Ich ließ mich auf den Sitz fallen. Wenn wenigstens noch jemand im Abteil gewesen wäre. Was nun? Vier Stunden Fahrzeit von hier bis Haifa, und am Ende der Strecke Dr. Schmuel Schilhav, finster, händeringend und an mir verzweifelt, Lehrer und Pädagoge, Verfasser von sieben Werken zum Thema Erziehung und Staatsbürgerkunde und durch einen unglücklichen Umstand mein Onkel, der älteste Bruder meines Vaters. Ich stand auf. Untersuchte zweimal, wie man das Fenster öffnete und schloss. Klappte den Abfallbehälter auf und zu. Im Abteil gab es sonst nichts, was sich öffnen und schließen ließ. Alles war in einem ordnungsgemäßen Zustand. Ohne Zweifel, der Zug entsprach dem neuesten Stand der Technik. Dann stieg ich auf die Sitzbank, streckte mich, schaffte es, mich in voller Länge auf die oberste Gepäckablage zu wuchten, ließ mich kopfüber hinunter auf den Boden des Abteils und prüfte, ob jemand zufällig etwas Geld unter den Sitzen verloren hatte. Er hatte nichts verloren, Jemand war gewissenhaft. Zur Hölle mit Vater und Gabi, mich so an Onkel Schmuel auszuliefern, und das eine Woche vor der Bar Mizwa. Nun gut, Vater empfand Hochachtung vor seinem ältesten Bruder und bewunderte dessen Kompetenz in Sachen Erziehung. Aber Gabi? Die ihn hinter seinem Rücken Uhu nannte? War dies das einzigartige Geschenk, das sie mir versprochen hatte? Das Lederpolster meines Sitzplatzes hatte ein kleines Loch. Ich steckte einen Finger hinein und machte daraus ein großes Loch. An solchen Stellen findet sich gelegentlich ein Geldstück. Ich fand jedoch nichts außer Schaumgummi und Sprungfedern. In vier Stunden vermochte ich mich mit dem Finger durch wenigstens drei Abteile zu arbeiten, einen Tunnel in die Freiheit zu bohren, zu verschwinden und nicht bei Schmuel Schilhav (ehemals Fejerberg) anzukommen, und dann würden wir ja sehen, ob sie mich abermals losschicken würden. Mein Finger war erledigt, lange bevor die drei Abteile erledigt waren. Ich legte mich, Beine in die Höhe, auf die Sitzbank. Eingesperrt war ich. Ein mobiler Gefangener. Auf dem Transport zum Gericht. Mein Bargeld fiel mir aus der Tasche. Die Münzen rollten durch das Abteil. Einen Teil fand ich wieder, einen Teil nicht. Jedes der jüngeren Familienmitglieder hatte einmal im Leben diese gnadenlose Behandlung durch Onkel Schilhav über sich ergehen lassen müssen, diese Folterzeremonie, die Gabi die Anfeuerung nannte. Für mich jedoch würde es das zweite Mal sein. In der Geschichte hat es kein Kind gegeben, das sie zweimal durchmachte, ohne dass die Seele dabei Schaden genommen hätte. Ich schwang mich auf die Bank und begann, an die Wand des Abteils zu trommeln. Später ging ich dazu über, einen Takt zu klopfen. Möglicherweise saß im Nachbarabteil ein ebenso elender Inhaftierter wie ich, der daran interessiert war, mit einem Leidensgenossen zu korrespondieren? Vielleicht war der Zug überhaupt besetzt mit jugendlichen Straftätern, die geschlossen zu meinem Onkel gebracht wurden? Ich hämmerte erneut, diesmal mit dem Fuß. Wer kam, war der Schaffner, der brüllte, ich solle still sitzen. Ich saß still. Die letzte Anfeuerung reichte mir für den Rest meines Lebens. Sie geschah, nachdem mir die Sache mit der Kuh Pesja Mautner unterlaufen war. Damals hatte sich Vaters Bruder mit mir in eine enge, stickige Kammer begeben und sich mir erbarmungslos zwei volle Stunden lang gewidmet. Er hatte seine Unterweisung wohlwollend und in gedämpftem Flüsterton begonnen und sogar meinen Namen gewusst, aber nach ein paar Minuten war ihm passiert, was ihm stets passierte, er vergaß ganz und gar, wo er sich befand und in wessen Begleitung, und er wähnte sich auf einer großen Bühne, am Versammlungsort der Stadt, vor einer großen Zuhörerschaft aus Schülern und Getreuen, die sich allesamt eingefunden hatten, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Und nun - das Ganze noch einmal. Einfach so. Ohne Verfehlung meinerseits. "Vor der Bar Mizwa musst du dir anhören, was Onkel Schmuel dir zu sagen hat", hatte Gabi gemeint. Auf einmal war er Onkel Schmuel. Dabei wusste ich: Gabi wollte mich nur aus dem Weg räumen, um meinem Vater den Laufpass geben zu können. Ich stellte mich hin. Stand aufrecht. Taumelte. Setzte mich wieder. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Ich kannte sie. Wenn ich nicht in der Nähe war, würden sie streiten und sich schreckliche Dinge an den Kopf werfen, und nichts wäre wieder gut zu machen, und es war mein Los, über das dort zur Zeit bestimmt wurde. "Warum sprechen wir nicht auf der Arbeit darüber?" fragt mein Vater Gabi gerade. "Ich bin spät dran." "Weil auf der Arbeit immer lauter Leute im Zimmer sind und ständig jemand dazwischenklingelt und man dort nicht miteinander reden kann. Komm, lass uns in ein Café gehen!" "In ein Café?" wundert sich Vater. "Am helllichten Tag? So ernst ist die Lage?" "Hör auf, dich über alles lustig zu machen!" wird sie ungehalten, und ihre gerötete Nasenspitze deutet bereits auf Tränen hin. "Wenn es wieder um die Sache geht -", sagt Vater und seine Stimme wird hart, "dann vergiss es. Bei mir hat sich, seit wir darüber gesprochen haben, nichts geändert. Ich bin noch nicht so weit." "Diesmal wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe", sagt Gabi, "und du wirst mich ausreden lassen. Wenigstens zuhören wirst du mir!" Sie steigen in den Streifenwagen, und Vater lässt den Motor an. Die Dienstgrade auf seinen Schultern glänzen warnend. Seine Miene ist verschlossen. Gabi ist in sich zusammengesunken. Obwohl sie ihre Aussprache nicht einmal begonnen haben, sind sie schon mitten im Gefecht. Gabi holt einen kleinen, runden Spiegel aus ihrer Tasche. Schaut für einen kurzen Moment in das Gesicht, das ihr entgegenblickt. Versucht, das Dickicht ihres gewellten Haares, den gekräuselten Hügel, an den Kopf zu drücken. Affenfratze, denkt sie bei sich. "Falsch!" fuhr ich in dem fahrenden Zug hoch. Nie ließ ich zu, dass sie sich selbst beleidigte. "Du hast ein interessantes Gesicht." Und wenn ich spürte, dass ich sie wenig überzeugte, fügte ich gewöhnlich hinzu: "Was zählt, ist allein deine innere Schönheit." "Das kennen wir schon", antwortete sie dann sauertöpfisch. "Das Komische daran ist nur, dass es keinen Wettbewerb für die Wahl zur Miss Innere Schönheit gibt." Plötzlich fand ich mich neben dem kleinen, roten Hebel wieder, der in der Nähe des Fensters an der Wand befestigt war. In meiner Lage war dies kein guter Standort. Solch ein Hebel konnte, wenn man durch Zufall daran zog, einen ganzen Zug zum Stehen bringen. Ich las die Warnung der Bahndirektion. Nur im Notfall war es erlaubt, den Hebel zu bedienen. Hohes Bußgeld und eine Haftstrafe erwarteten den, der ohne Grund den Zug anhielt. Es begann, mir in den Fingern zu kribbeln. In jeder Fingerspitze und auch in den Zwischenräumen. Ich las nochmals, laut und deutlich, die ausdrückliche Warnung. Es half nichts. Auch meine Handflächen begannen zu schwitzen. Ich steckte sie in die Taschen. Aber unverzüglich schlüpften sie wieder heraus, und wer sie nicht kannte, hätte meinen können, unschuldige Gliedmaßen wünschten etwas frische Luft. Ich schwitzte aus sämtlichen Poren. Ich fasste an die Kette um meinen Hals. Eine Revolverkugel hing daran, schwer, kühl und beruhigend. Sie stammt aus dem Körper deines Vaters, sagte ich mir tonlos, aus seiner Schulter wurde sie geholt, sie bewahrt dich vor dem Unfug, aber mein ganzer Leib juckte bereits. Ich kannte dieses Gefühl und wusste, worauf es hinauslief. In mir begann es zu arbeiten: Vielleicht würde der Lokomotivführer gar nicht wissen, in welchem Abteil man den Hebel bedient hatte? Aber was, wenn es in der Lok ein Instrument gab, das anzeigte, wo er betätigt worden war? Gut, ich konnte hier ziehen und schnell in ein anderes Abteil rennen. Aber was war, wenn man meine Fingerabdrücke auf dem Hebel fand? Vielleicht war es besser, sich vorher ein Tuch um die Hand zu wickeln?

Auf diese Art von Debatte durfte ich mich nicht einlassen. Wenn ich erst begann, so zu argumentieren, blieb ich stets auf der Strecke. Ich spannte die Rückenmuskeln und stand da wie Vater, breitschultrig und stämmig wie ein Bär, und befahl mir, Ruhe zu bewahren. Aber nichts wollte helfen. Zwischen den Augen hatte ich einen warmen Punkt, der sich in solchen Momenten noch mehr erhitzte, und da kam es auch schon, überwältigte mich, und im letzten Augenblick ging ich in die Knie, knotete meine Arme um die Beine und warf mich zusammengerollt auf den Sitz. Gabi nannte diese von mir entwickelte Technik Vorbeugehaft. Für alles hatte sie einen eigenen Namen. "Ich bin kein Kind mehr", sagt sie gerade in dem Café zu Vater, "und ich lebe nun schon zwölf Jahre mit dir und Nono." Bis jetzt hat sie ihre Stimme unter Kontrolle, und sie redet ruhig und sachlich: "Zwölf Jahre lang ziehe ich ihn groß und sorge für euch beide und für euer Heim. Ich kenne dich wie niemand sonst auf der Welt, und trotzdem will ich richtig mit dir zusammenleben. Nicht nur bei der Arbeit für den Schreibkram dasein und daheim für die Küche und die Bügelwäsche. Ich will mit euch unter einem Dach wohnen. Will auch nachts Nonos Mutter sein. Sag mir, wovor hast du solche Angst?" "Ich bin noch nicht so weit", sagt Vater und klemmt die Kaffeetasse zwischen seine wuchtigen Pranken. Gabi wartet einen Moment und atmet tief durch, bevor sie sagt: "Und ich kann so nicht mehr weitermachen." "Sieh mal, eh ... Gabi", sagt Vater, und sein Blick wandert nervös und voller Ungeduld über ihre Schulter, "woran fehlt es uns denn? Wir haben uns an dieses Leben gewöhnt, es ist gut für uns drei, auch für das Kind. Warum muss man es plötzlich ändern?" "Weil ich schon vierzig bin, Jakob, und ein erfülltes Leben leben will, ein echtes Familienleben." Nun fängt ihre Stimme an, sich zu überschlagen: "Und ich möchte, dass du und ich ein eigenes Kind haben. Eins von mir und von dir. Ich will wissen, was für ein neuer Mensch dabei herauskommt, wenn wir zwei uns verbinden. Und wenn wir noch ein Jahr warten - bin ich eventuell schon zu alt. Ich bin auch der Meinung, dass Nono eine Mutter verdient, die immer für ihn da ist, nicht nur eine Halbtagsmutter!" Was sie da sagte, wusste ich auswendig. Sie hatte ihre Rede mit mir zusammen gepaukt. Ich war es, der den herzzerreißenden Satz "Will auch nachts Nonos Mutter sein" beigesteuert hatte. Ich hatte ihr auch einen praktischen Ratschlag erteilt: dass sie nicht weinen sollte. Dass sie ihm um Himmels willen bloß nichts vorheulen sollte! Denn wenn sie anfängt zu triefen ist sie verloren. Vater kann ihre Tränen nicht ausstehen. Tränen im Allgemeinen. "Die Zeit ist noch nicht gekommen, Gabi", seufzt er in diesem Moment und schaut verstohlen auf seine Uhr. "Gib mir noch ein wenig Zeit. Man kann eine derartige Entscheidung nicht unter Druck fällen." "Ich warte schon zwölf Jahre, und länger werde ich mich nicht gedulden." Schweigen. Er antwortet nicht. Und in ihren Augen steigt bereits die Flut. Wenn sie sich nur beherrscht. Reiß dich zusammen, hörst du?! "Jakob, sag es mir jetzt offen ins Gesicht: ja oder nein?" Schweigen. Ihr üppiges Doppelkinn zittert. Ihre Lippen verziehen sich. Wenn sie anfängt zu heulen, ist sie aufgeschmissen. Und ich mit ihr. "Denn wenn deine Antwort nein ist, stehe ich auf und gehe. Und diesmal ist es endgültig. Nicht wie sonst. Diesmal-ist-es-endgültig!" Und sie haut außer sich auf den Tisch, die Tränen überschwemmen bereits ihr rundes Gesicht, und ihre Wimperntusche tropft auf die Sommersprossen, sammelt sich in den beiden tiefen Rinnen um ihren Mund, und Vater dreht den Kopf naserümpfend zum Fenster, denn er kann es nicht leiden, wenn sie weint, vermutlich mag er sie nicht ansehen, wenn sie in dieser Verfassung ist, mit den Tränen und den geschwollenen Augen und den speckigen, bebenden Wangen. In diesem Augenblick sieht sie nicht gut aus. Es war ein himmelschreiendes Unrecht, denn wäre sie schön, und sei es nur ein klein wenig, hätte sie etwa einen zierlichen, süßen Mund oder eine Stupsnase, hätte Vater vielleicht plötzlich Zuneigung empfunden zu dem einen hübschen Ding an ihr. Manchmal kann ein winziger Schönheitsfleck der Grund dafür sein, dass jemand sich in jemanden verliebt, auch wenn es sich nicht um die äußere Schönheitskönigin handelt. Aber wenn Gabi weinte, hatte sie nicht mal einen solchen Schönheitsfleck vorzuweisen. Das musste selbst ich bekümmert zugeben. "In Ordnung, ich habe verstanden", seufzt sie durch das rote Tuch, das vordem edleren Zwecken gedient hatte, "ich bin solch ein Esel, dass ich geglaubt habe, bei dir könnte sich überhaupt je etwas ändern." "Pst ...", bittet er und sieht sich beklommen um. Ich wünsche ihm, dass zu diesem Zeitpunkt alle Leute in dem Café ihn anstarren. Dass sämtliche Kellner und Köche und Kaffeekocher aus der Küche kommen und mit Schürzen und verschränkten Armen um ihn herumstehen und ihn mustern. Wenn es etwas gab, das ihm Angst einjagte - dann war es, so im Rampenlicht zu stehen. "Sieh mal, eh, Gabi", versucht er, sie zu besänftigen. In diesem Moment ist er plötzlich sanft, sei es, weil Leute um sie herumstehen, sei es, weil er spürt, dass es ihr diesmal ernst ist: "Lass mir noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken, heh?" "Wozu? Damit du, wenn ich fünfzig bin, noch ein wenig Bedenkzeit von mir erbitten kannst? Und wenn du mir dann sagst, dass ich verschwinden soll? Wer wird mich dann noch beachten? Außerdem möchte ich Mutter werden, Jakob!" Er würde sich wegen der Blicke der Leute am liebsten verkriechen, aber Gabi ist nicht mehr zu bremsen: "Ich kann einem Kind viel Liebe geben, und dir auch! Sieh nur, wie ich Nono die Mutter sein kann. Warum versuchst du nicht, auch mich zu verstehen?" Auch wenn sie mir vortrug, was sie ihm mitteilen würde, pflegte Gabi sich im Nu zu vergessen und von ihrem Kummer mitreißen zu lassen, zu jammern und mich anzuflehen, als wäre ich er. Gewöhnlich hörte sie dann aus heiterem Himmel auf, wurde rot und redete sich heraus, es gäbe Dinge, die wahrlich noch nichts für mein Alter seien, wobei ich ohnehin schon alles wüsste. Ich wusste nicht alles, aber einiges habe ich auf diesem Weg erfahren. Sie sammelt die feuchten Papiertaschentücher auf und quetscht sie mit Nachdruck in den Aschenbecher. Sie wischt den Rest der Schminke aus ihren verquollenen Augen. "Heute haben wir Montag", sagt sie, und ihre Stimme kämpft dagegen an zu kippen. "Die Bar Mizwa ist am Samstag. Ich gebe dir Zeit bis zum nächsten Sonntagvormittag. Du hast eine ganze Woche, um dich zu entscheiden." "Du stellst mir ein Ultimatum? Ich lasse mich nicht erpressen, Gabi! Ich hielt dich für gescheiter." Er versprüht seine Worte gelassen, zwischen seinen Augen vertieft sich jedoch die furchtbare Zornesfalte. "Mir fehlt die Kraft, länger zu warten, Jakob. Zwölf Jahre lang bin ich gescheit gewesen und bin allein geblieben. Vielleicht komme ich mit Dummheit weiter." Mein Vater schweigt. Sein rotes Gesicht ist jetzt noch roter. "Komm, fahren wir zur Arbeit", sagt sie mit heiserer Stimme. "Und im Übrigen, wenn deine Antwort die ist, von der ich annehme, dass sie es sein wird, rate ich dir, auch nach einer neuen Schreibkraft zu suchen. Dann sehe ich mich nämlich gezwungen, sämtliche Beziehungen zu dir abzubrechen. Basta." "Sieh mal, eh ... Gabi", sagt Vater erneut. Das ist alles, was er fertig bringt: Sieh mal, eh ... Gabi. "Bis nächsten Sonntag", bestimmt Gabi, steht auf und geht aus dem Café. Sie verlässt uns. Sie verlässt mich. Im Zug sprengten meine Arme und Beine die Vorbeugehaft, Notfall. Notfall, kreischten die roten Worte neben dem kleinen Hebel. Der Zug brachte mich weg, und dort ging mein Leben in die Brüche. Ich hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu und schrie mich an, Amnon Fejerberg! Amnon Fejerberg! Als ob jemand von außen versuchte, mich zu warnen, den Hebel ja nicht anzufassen, mich vor mir selbst in Sicherheit zu bringen, jemand wie Vater oder ein Lehrer oder ein renommierter Pädagoge oder gar der Direktor der Jugendstrafvollzugsanstalt, Amnon Fejerberg! Amnon Fejerberg! Aber ich war schon nicht mehr zu retten. Ich war allein. Meinem Schicksal ausgeliefert. Ich hätte nicht fahren dürfen. Ich musste augenblicklich umkehren. Auf der Stelle. Wankend steuerte ich auf den Hebel zu, streckte die Hand nach ihm aus, meine Finger berührten ihn bereits, denn dies war wahrhaftig ein Notfall. Aber da, als ich gerade mit aller Kraft an dem Hebel reißen wollte, öffnete sich hinter mir die Tür, und das Abteil betraten ein Zuchthäusler und ein Polizist. Sie standen dort, sahen einander an und schienen ziemlich verstört.

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