Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 29: Zauberstreit in Caprona von Diana Wynne Jones

Zaubersprüche sind das Schwierigste auf der Welt. Das war eines der ersten Dinge, die Montana-Kinder zu lernen hatten. Einen Zauberspruch auswendig lernen kann jeder, aber wenn's dazu kommt, ihn anzuwenden - ob man ihn nun aufschreibt oder ausspricht oder singt -, dann muss das genau richtig geschehen - oder es passieren die unmöglichsten Dinge.

Ein Beispiel dafür ist die kleine Angelica Petrocchi, die ihren Vater leuchtend grün hexte, indem sie einen falschen Ton sang. Ganz Caprona - besser gesagt, ganz Italien - redete wochenlang davon. Die besten Zaubersprüche kommen immer noch aus Caprona; sie werden trotz der jüngsten Unstimmigkeiten und Kräche vom Haus Montana oder dem Haus Petrocchi geliefert. Wenn irgendwer irgendwo Zauberformeln verwendet, die tatsächlich funktionieren, zum Beispiel um den Radioempfang zu verbessern oder um Tomaten zu züchten, dann kann man wetten, dass er im Urlaub in Caprona gewesen ist und die entsprechenden Zaubersprüche von dort mitgebracht hat. Die Alte Brücke in Caprona ist mit kleinen steinernen Buden gesäumt, wo schmale, farbige Briefkuverts, Handschriften und Schriftrollen an Schnüren hängen wie bunte Fähnchen und Wimpel. Man kann dort Zaubersprüche aus jedem Zauberformel-Erzeugungshaus Italiens kaufen. Jedem Spruch ist eine Gebrauchsanweisung beigelegt und jeder einzelne trägt den Stempel der Casa, des Hauses, von dem er stammt. Will man herausfinden, wer den Zauberspruch gemacht hat, muss man sich nur das Kuvert genau ansehen. Findet man eine längliche, kirschfarbene, mit einem schwarzen Leoparden gestempelte Handschrift, dann kommt er aus der Casa Petrocchi. Findet man ein laubgrünes Kuvert, das ein geflügeltes Pferd trägt, hat das Haus Montana ihn hergestellt. Die Zaubersprüche beider Häuser sind so wirksam, dass unwissende Leute meinen, sogar die Kuverts hätten Zauberkraft. Das ist natürlich Unsinn. Denn wie man Paolo und Tonino Montana immer wieder und wieder erklärte: ein Zauberspruch, das sind die richtigen Worte, zur rechten Zeit, am rechten Ort, in der rechten Weise gesprochen. Die großen Familien Petrocchi und Montana reichen bis in die Zeit der Gründung von Caprona (vor tausend oder mehr Jahren) zurück. Und die beiden Familien sind erbitterte Gegner. Sie stehen nicht einmal auf Grußfuß. Wenn sich ein Petrocchi und ein Montana in einer der engen, mit goldflimmernden Glimmersteinen gepflasterten Gassen begegnen, schauen sie weg und gehen mit gerümpften Nasen aneinander vorbei. Ihre Kinder werden in verschiedene Schulen geschickt und davor gewarnt, auch nur ein einziges Wort mit einem Kind aus der anderen Casa zu sprechen. Manchmal freilich passiert es, dass Gruppen junger Burschen und Mädchen aus dem Haus Montana und dem Haus Petrocchi aufeinander treffen, wenn sie am Abend auf der breiten Straße, die der Corso genannt wird, bummeln. Sobald das geschieht, suchen andere Bürger Deckung. Wenn die jungen Leute mit Fäusten und Steinen aufeinander losgehen, ist es schon schlimm genug, wenn sie aber Zaubersprüche gegeneinander schleudern, ist das fürchterlich. Der schneidige Rinaldo Montana zum Beispiel ließ einmal drei Tage lang Kuhfladen auf den Corso regnen, was besonders für die Touristen sehr ärgerlich war. "Ein Petrocchi hat mich beleidigt", erklärte Rinaldo mit seinem strahlendsten Lächeln. "Und ich hatte zufällig einen neuen Zauberspruch in der Tasche." Die Petrocchis behaupteten dagegen, Rinaldo hätte im Eifer des Gefechtes die eigenen Worte durcheinander gebracht. Wusste doch jeder, dass alle Zaubersprüche Rinaldos Liebeszauber waren. Die erwachsenen Mitglieder beider Häuser klärten die Kinder niemals darüber auf, was eigentlich die Montanas und Petrocchis dazu gebracht hatte, einander so zu hassen. Es war eine der Aufgaben, die man traditionsgemäß den älteren Brüdern und Schwestern, Cousins und Cousinen überließ. Paolo und Tonino hörten die Geschichte immer wieder, und zwar von ihren Schwestern Rosa, Corinna und Lucia, von ihren Cousins Luigi, Carlo, Domenico und ihrer Cousine Anna, und dann auch noch von ihren Cousins und Cousinen zweiten Grades, Piero, Luca, Giovanni, Paola, Teresa, Bella, Angelo und Francesco. Selber erzählten sie es sechs jüngeren Cousins und Cousinen weiter, als diese in das richtige Alter kamen. Die Montanas waren eine sehr große Familie. Zweihundert Jahre zuvor hatte Ricardo Petrocchi - so wurde berichtet - sich plötzlich eingebildet, dass der Herzog von Caprona bei den Montanas mehr Zaubersprüche bestellte als bei den Petrocchis, und er schrieb dem alten Francesco Montana diesbezüglich einen äußerst beleidigen den Brief. Der alte Francesco war darüber so wütend, dass er sogleich alle Petrocchis zu einem Fest einlud. Er hätte, wie er sagte, ein neues Gericht, das er sie gern würde kosten lassen. Dann zerriss er Ricardo Petrocchis Brief in Streifen, rollte sie zusammen und schleuderte einen seiner saftigsten Sprüche darüber. Und das Ganze verwandelte sich in einen Berg Spaghetti. Die Petrocchis aßen gierig und kriegten Bauchkrämpfe, vor allem Ricardo - denn nichts bekommt einem Menschen schlechter, als wenn er seine eigenen Worte schlucken muss. Er vergab Francesco Montana nie und seit damals waren die beiden Familien verfeindet. "Und", sagte Lucia, die die Geschichte am häufigsten erzählte, obwohl sie nur ein Jahr älter war als Paolo, "und so wurden damals die Spaghetti erfunden." Lucia war es auch, die ihnen flüsternd alle schrecklichen heidnischen Gewohnheiten und Bräuche der Petrocchis berichtete: dass sie nie zur Messe gingen oder zur Beichte; dass sie nie die Wäsche wechselten; dass noch nie einer von ihnen geheiratet hatte, und trotzdem - noch leiser geflüstert - kriegten sie Kinder wie die Kaninchen; und dass sie unerwünschte Babys gern ersäuften. Man wusste auch, dass sie ungeliebte Onkel und Tanten verspeisten; und dass sie so dreckig und ungewaschen waren, dass man die Casa Petrocchi schon die ganze Via Sant' Angelo herauf riechen und dazu noch die petrocchischen Fliegen summen hören konnte. Es gab noch Tausende andere Schauergeschichten, sogar noch schlimmere, denn Lucia hatte eine lebhafte Fantasie. Paolo und Tonino glaubten ihr jedes Wort und hassten die Petrocchis von Herzen. Als sie noch klein gewesen waren, hatten Tonino und Paolo sich eines Morgens aufgemacht, die Via Sant' Angelo hinunter, beinahe bis zur Neuen Brücke, um sich die Casa Petrocchi anzusehen. Aber es gab keinen Geruch und auch keine Fliegen, die sie hingeführt hätten, und ihre Schwester Rosa fand die Jungen, bevor diese das Haus fanden. Rosa, die acht Jahre älter war als Paolo und sogar damals schon recht erwachsen, lachte, als sie ihr die vergebliche Suche gestanden, und führte die beiden zu der Casa Petrocchi. Sie stand gar nicht in der Via Sant' Angelo, sondern in der Via Cantello. Paolo und Tonino waren schrecklich enttäuscht. Das Haus war genau wie die Casa Montana. Es war weitläufig, wie die Casa Montana, und aus den gleichen Glimmerquarzsteinen gebaut und vielleicht ebenso alt. Das große vordere Tor bestand aus altem Holz mit Astknoten, genau wie das eigene Haustor, und sogar die gleiche goldene Engelsfigur stand in der Nische über dem Tor. Rosa erzählte ihnen, beide Figuren stünden dort zum Gedenken an den Engel, der den ersten Herzog von Caprona aufgesucht hatte, um ihm eine Partitur-Rolle Himmelsmusik zu bringen; aber das war den Jungen bekannt. Als Paolo darauf hinwies, dass es in der Casa Petrocchi anscheinend nicht stinke, biss Rosa sich auf die Lippen und sagte todernst, dass es nach außen nur wenige Fenster gäbe, und außerdem wären sie alle geschlossen. "Ich nehme an, dass alles sich rund um den Innenhof abspielt wie bei uns daheim", sagte sie. "Vielleicht zieht der ganze Gestank dorthin." Die Jungen fanden das durchaus wahrscheinlich und wollten warten, bis ein Petrocchi herauskam. Aber Rosa sagte, sie halte das für sehr unklug, und zog sie fort. Die Jungen blickten über die Schulter zurück, als sie sie wegschleppte, und entdeckten dabei, dass die Casa Petrocchi vier Türme aus Glimmerquarz hatte, einen Turm an jeder Ecke, während die Casa Montana nur einen Turm besaß, und zwar über dem Tor. "Das ist nur, weil die Petrocchis angeben wollen", sagte Rosa und zerrte die Jungen weiter. "Kommt endlich!" Da jeder der Türme mit einem kleinen Hut roter Dachziegel gedeckt war, genauso wie ihre eigenen Dächer und die Dächer aller Häuser in Caprona, hielten Paolo und Tonino sie nicht für besonders großartig, aber sie wollten nicht mit Rosa streiten. Enttäuscht ließen sie sich von ihr zur Casa Montana zurückschleppen und durch das eigene große, alte Tor, das auch aus altem, astknotigem Holz bestand, in den lärmerfüllten Innenhof ziehen. Dort ließ Rosa sie stehen, rannte die Stiegen zur Galerie hinauf und schrie: "Lucia! Lucia! Ich habe mit dir ein Hühnchen zu rupfen!" Türen und Fenster zum Hof öffneten sich rundum. Die Galerie mit ihrem Holzgeländer und dem ziegelgedeckten Dach lief um drei Seiten des Hofs und führte zu den Zimmern und dem oberen Stockwerk. Onkel, Tanten, große und kleine Cousins und Cousinen und Katzen waren überall; sie lachten, kochten, besprachen Zauberformeln, wuschen Wäsche, sonnten sich oder spielten. Paolo seufzte vor Zufriedenheit und hob eine schnurrende Katze hoch. "Ich glaube nicht, dass es in der Casa Petrocchi so zugeht wie bei uns!"

Band 29: Zauberstreit in Caprona von Diana Wynne Jones

Bevor Tonino ihm beistimmen konnte, liefen sie Tante Maria in die Arme. Sie war dicker als Tante Gina, aber nicht so dick wie Tante Anna. "Wo seid ihr denn, meine Herzchen! Mindestens eine halbe Stunde warte ich schon mit dem Unterricht!" Alle in der Casa Montana arbeiteten sehr hart. Paolo und Tonino wurden bereits in den ersten Zauberspruchregeln unterrichtet. Wenn Tante Maria anderweitig beschäftigt war, gab ihnen ihr Vater Antonio Unterricht. Antonio war der älteste Sohn des Alten Niccolo und er würde das Haupt der Familie sein, sobald der Alte Niccolo starb. Paolo war überzeugt, dass diese Aussicht seinen Vater belastete. Antonio war ein magerer, ständig bekümmerter Mensch, der weniger oft lachte als die andern Montanas. Er war anders als sie. Statt es zum Beispiel dem Alten Niccolo zu überlassen, ihm eine Frau aus einem Zauberformel-Erzeugungshaus in Italien auszusuchen, war Antonio nach England gefahren, um sich das Land anzusehen, und war mit Elizabeth verheiratet zurückgekommen. Elizabeth unterrichtete die Jungen in Musik. "Wenn ich diese Angelica Petrocchi unterrichten würde", bemerkte sie immer wieder vergnügt, "dann hätte sie niemals irgendetwas oder irgendwen grün gezaubert." Der Alte Niccolo behauptete, Elizabeth sei die beste Musiksachverständige von ganz Caprona. Und deshalb, erklärte Lucia den Jungen, hatte Antonio sie geheiratet. Aber Rosa sagte ihnen, sie sollten sich darum nicht kümmern. Rosa war stolz darauf, eine halbe Engländerin zu sein. Paolo und Tonino waren vielleicht noch stolzer darauf, Montanas zu sein. Es war schon etwas Großes, zu wissen, dass man aus einer Familie stammte, die weltweit als das bedeutendste Zauberspruch-Erzeugungszentrum in Europa bekannt war - wenn man die Petrocchis nicht zählte. Es gab Zeiten, da Paolo es kaum erwarten konnte, erwachsen zu sein und so wie sein Cousin, der schneidige Rinaldo. Er hatte sieben neue Zaubersprüche geschaffen, bevor er mit der Schule fertig gewesen war. Alles flog Rinaldo zu. Die Mädchen verliebten sich scharenweise in ihn und neue Zauberformeln flossen ihm nur so aus der Feder. Und heutzutage war es doch, wie der Alte Niccolo sagte, nicht leicht, einen neuen Zauberspruch zu erfinden. Es gab schon so viele. Paolo bewunderte Rinaldo über alle Maßen und erklärte Tonino, Rinaldo sei ein echter, ein wahrer Montana. Tonino, der mehr als ein Jahr jünger war als Paolo, bewunderte diesen. Paolo war so flink wie Rinaldo. Er konnte lernen, ohne Zaubersprüche zu Hilfe zu nehmen. Tonino war ein Langsamer. Er konnte sich Dinge nur merken, wenn er sie andauernd wiederholte. Es kam ihm vor, als ob Paolo mit einem Instinkt für Zauberei geboren war, den er selber nicht besaß. Tonino war manchmal tief unglücklich, dass er so langsam war. Niemand anderen störte das wirklich. Alle seine Schwestern, sogar die wissensdurstige Corinna, brachten Stunden damit zu, mit ihm zu lernen. Elizabeth versicherte ihm, er sänge niemals einen falschen Ton. Sein Vater schalt ihn, weil er zu viel arbeitete, und Paolo versicherte ihm, er würde in der Schule um Längen besser sein als die anderen Kinder. Paolo war eben erst zur Schule gekommen. Er war in den Grundfächern so schnell wie in Zauberspruchkunde. Als Tonino zur Schule kam, war er dort genauso langsam wie zu Hause. Die Schule verwirrte ihn. Er verstand nicht, was die Lehrer von ihm wollten. Am ersten Samstag war ihm so hundeelend, dass er von daheim wegrennen musste und heulend rund um Caprona lief. Er blieb Stunden aus. "Ich kann doch nichts dafür, dass ich schneller bin als er!", sagte Paolo und heulte gleichfalls. Tante Maria rannte auf Paolo zu und schloss ihn in die Arme. "Schon gut, schon gut! Fang du nicht auch noch an! Du bist genauso klug wie mein Rinaldo und wir sind alle schrecklich stolz auf dich." "Lucia, geh Tonino suchen", sagte Elizabeth. "Paolo, du musst dich nicht so aufregen. Tonino ist wie ein Schwamm, er saugt die Zaubersprüche auf, ohne dass er es weiß. Mir ist es in der ersten Zeit hier genauso gegangen. Soll ich das Tonino erzählen?", fragte sie Antonio, der von der Galerie herbeigestürzt war. In der Casa Montana kam immer gleich die ganze Familie gerannt, wenn einer von ihnen Kummer hatte. Antonio rieb sich die Stirn. "Vielleicht solltest du. Fragen wir den Alten Niccolo. Komm mit, Paolo." Paolo folgte seinem mageren Vater durch die Muster, die der Sonnenschein in die Galerie warf, in die blaue Kühle des Scriptoriums, des Schreibsaals. Dort standen seine beiden anderen Schwestern, Rinaldo und fünf Cousins und Cousinen und zwei seiner Onkel an den hohen Schreibpulten und schrieben aus großen ledergebundenen Büchern Zaubersprüche ab. Jedes Buch hatte ein Messingschloss, damit die Familiengeheimnisse nicht gestohlen werden konnten. Antonio und Paolo gingen auf Zehenspitzen durch den Raum. Rinaldo lächelte ihnen zu ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Während die anderen Federn kratzend über das Papier schlichen und immer wieder Pausen machten, raste Rinaldos Feder nur so dahin. In dem Raum hinter dem Scriptorium waren Onkel Lorenzo und Cousin Domenico damit beschäftigt, geflügelte Pferde auf laubgrüne Kuverts zu stempeln. Als sie vorbeigingen, blickte Onkel Lorenzo sie scharf an und entschied, der Alte Niccolo könnte mit dieser Sache alleine fertig werden. Er zwinkerte Paolo zu und drohte ihn mit einem geflügelten Pferd zu stempeln. Der Alte Niccolo befand sich in der warmen, modrig duftenden Bibliothek. Er stand mit Tante Francesca über ein Buch gebeugt. Sie war seine Schwester und deshalb eine wirkliche Großtante, sie war dick wie ein Fass, doppelt so fett wie Tante Anna und noch leidenschaftlicher als Tante Gina. Sie sagte heftig: "Aber die Sprüche der Casa Montana haben immer eine gewisse Eleganz. Der da ist ohne jeden Charme! Und der ..." Die beiden runden, alten Gesichter wandten sich Antonio und Paolo zu. Die runden Augen des Alten Niccolo blickten mit dem gleichen neugierigen Staunen in die Welt wie ein neugeborenes Baby. Tante Francescas Kopf war sehr klein für ihren umfangreichen Leib und ihre Augen waren klein, klug und schlau. "Ich wollte gerade kommen", sagte der Alte Niccolo. "Ich hätte gedacht, Tonino braucht Hilfe, aber du kommst mit Paolo." "Paolo hat Kummer", sagte Tante Francesca. "Paolo", sagte Niccolo, "wenn dein Bruder sich kränkt, ist das nicht deine Schuld." "Nein", sagte Paolo. "Ich glaube, die Schule ist schuld." "Wir haben daran gedacht, dass vielleicht Elizabeth Tonino erklären könnte, dass er dort keine Lernzauberformeln verwenden darf", sagte Antonio. "Aber Tonino hat Ehrgeiz!", rief Tante Francesca. "Hat er nicht. Unglücklich ist er!", sagte sein Großvater. "Und wir müssen uns überlegen, wie man ihm da am besten hilft. Ich glaub, ich weiß es." Sein Gesicht strahlte. "Benvenuto!" Obwohl der Alte Niccolo das nicht laut sagte, schrie plötzlich jemand in der Galerie: "Der Alte Niccolo braucht Benvenuto!" Es begann ein Gerenne und In-den-Hof-Hinunterrufen. Jemand hämmerte mit einem Stock auf eine Regentonne. "Benvenuto! Wo steckt denn dieser Kater schon wieder! Benvenuto!" Selbstverständlich ließ Benvenuto sich Zeit mit seinem Erscheinen. Benvenuto war Oberkater der Casa Montana. Es dauerte fünf Minuten, bis Paolo seine kräftigen Pfotenschritte über das Galeriedach tappen hörte. Dann folgte ein kräftiger Plumpser, als der Kater auf der Galerie landete. Gleich darauf erschien er an einem der offenen Bibliotheksfenster. "Da bist du ja", sagte der Alte Niccolo. "Ich wollte schon ungeduldig werden." Benvenuto ließ ein zottiges schwarzes Hinterbein vorschnellen und setzte sich nieder, um es zu lecken, als wäre das der Grund, warum er gekommen war. "Oh nein, bitte", sagte der Alte Niccolo. "Du musst mir helfen." Benvenutos große gelbe Augen wandten sich dem Alten Niccolo zu. Er war kein schöner Kater. Sein Kopf war ungewöhnlich breit und plump, mit großen, narbigen Flecken darauf, die von vielen Kämpfen herrührten. Diese Kämpfe hatten es mit sich gebracht, dass ihm die Ohren über die Augen hingen, so dass Benvenuto immer aussah, als trüge er eine zerrissene braune Mütze. Seine Ohren waren von Hunderten Bissen eingekerbt wie ein Stechpalmenblatt. Über seiner Nase hatte er drei weiße, kahle Flecken, die seinem Gesicht einen gerissenen, schrägen Ausdruck gaben. Diese Flecken hatten nichts mit Benvenutos Rang als Oberkater in einem Zaubererhaus zu tun. Sie waren das Ergebnis seiner besonderen Vorliebe für Steaks. Benvenuto war einmal unter Tante Ginas Fuß geraten, als diese beim Kochen war, und Tante Gina hatte ihm heißes Fett über den Kopf geschüttet. Deshalb übersahen Benvenuto und Tante Gina sich demonstrativ, wenn sie einander begegneten. "Tonino ist unglücklich", sagte der Alte Niccolo. Das schien Benvenuto wichtig genug, um ihm seine Aufmerksamkeit zu widmen. Er zog das ausgestreckte Bein zurück, sprang auf den Fußboden und von dort auf das oberste Bücherregal, all das mit einer einzigen Bewegung und ohne dass es schien, als hätte er einen Muskel bewegt. Und dort stand er, höflich mit dem wedelnd, was schön an ihm war: mit seinem buschigen Schwanz. Der Rest seines Pelzmantels war zu braunen Lumpen zerrissen. Außer dem Schwanz zeigte noch etwas, dass Benvenuto einst ein herrlicher schwarzer Perserkater gewesen war, und das war der flauschige Pelz an seinen Hinterbeinen. Und wie jeder Kater von Caprona am eigenen Leib erfahren hatte, verbargen diese flauschigen Hosen Muskeln, die einer Bulldogge Ehre gemacht hätten. Paolo starrte seinen Großvater an, der da von Angesicht zu Angesicht mit Benvenuto redete. Paolo hatte Benvenuto selbstverständlich immer mit Respekt behandelt. Jeder wusste, dass Benvenuto sich niemandem auf den Schoß setzte und dass er fürchterlich kratzen würde, sollte jemand versuchen ihn hochzuheben. Paolo wusste natürlich auch, dass Katzen sehr hilfreich sind beim Zaubersprüchemachen. Aber er hatte noch nie bemerkt, dass sie so viel verstanden. Und er war sich ganz sicher, dass Benvenuto jetzt dem Alten Niccolo antwortete, und zwar merkte er das an der Art, wie der Großvater Pausen einlegte, um zuzuhören. Paolo blickte seinen Vater an, um zu sehen, ob das wirklich stimmte. Antonio sah unbehaglich drein. Und aus dem bekümmerten Gesicht seines Vaters las Paolo, dass es überaus wichtig war, Katzen verstehen zu können, und dass Antonio selbst es nicht konnte. Ich muss anfangen die Katzensprache zu lernen, dachte Paolo. Er war ganz durcheinander. "Wen würdest du vorschlagen?", fragte der Alte Niccolo. Benvenuto hob die rechte Vorderpfote und leckte sie nachlässig. Niccolos Gesicht verzog sich zu einem strahlenden Lächeln. "Hört euch das an! Er will sich selber drum kümmern!", sagte er. Benvenuto schlug mit der Schwanzspitze. Dann war er weg. Er sprang zum Fenster zurück in einer fließenden und schnellen Bewegung - er hätte ein Malerpinsel sein können, der einen dunklen Strich durch die Luft zieht. Er ließ Tante Francesca und den Alten Niccolo glückstrahlend, Antonio mit kummervollem Gesicht zurück. "Um Tonino kümmert man sich", bemerkte der Alte Niccolo. "Wir sollten uns nicht mehr sorgen, außer er gibt uns neuerlich Grund dazu."

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