Stuttgart 21:Pisa am Neckar

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Demonstranten vor dem Stuttgarter Bahnhofsturm, im Februar 2013. (Foto: dpa)

Solange sich auf der Spitze des Stuttgarter Bahnhofsturms der Mercedes-Stern dreht, ist die Schwabenwelt in bester Ordnung. Nun sorgt das Material der Pfähle für neuen Streit: Gegner des Bahnhofsprojektes Stuttgart 21 fürchten sich vor einem "zweiten Pisa".

Von Roman Deininger, Stuttgart

Das Stuttgarter Bürgertum ist bekannt für seine große Aufgeschlossenheit für italienische Lebensart, doch auch die hat natürlich Grenzen. Unter den Gegnern des Bahnprojekts Stuttgart 21 hat sich jetzt der Schlachtruf durchgesetzt, Stuttgart dürfe kein "zweites Pisa" werden: eine Stadt mit einem schiefen Turm.

Die Sorge bezieht sich auf ein Gebäude, das der Architekt Paul Bonatz einst selbstbewusst als "Nabel Schwabens" geplant hatte. Der Nabel Stuttgarts ist der Bahnhofsturm dann auch geworden: 56 Meter hoch, ein riesenhafter Markstein am Anfang der Königstraße, der Lebensader des Zentrums. Von oben hat man einen Prachtblick in den Talkessel, und selbst die Aussicht von unten bietet Erbauung: Solange sich auf der Turmspitze der Mercedes-Stern in Sonntagsfahrer-Tempo dreht, ist die Schwabenwelt in bester Ordnung.

Seit fast hundert Jahren wacht der Bahnhofsturm nun schon über Stuttgart, 1914 wurde der Grundstein gelegt. Die Frage ist nur: Worauf genau?

Unstrittig ist, das der 10.300 Tonnen schwere Turm in sumpfigem Boden auf 289 Pfählen ruht, je elf Meter lang. Nicht zweifelsfrei überliefert ist, aus welchem Material die Pfähle sind. Eisenbeton, sagt die Bahn. Eichenholz, sagt Peter Dübbers.

Eine Stadt mit ziemlich schiefen Debatten

Dübbers ist der Enkel des Bahnhofsarchitekten Bonatz, er ist selbst Architekt und im S-21-Streit als Verteidiger des Familienerbes aufgetreten. Mit einer Urheberrechtsklage gegen die Bahn versuchte er, den Abriss der Bahnhofsflügel zu verhindern, vergeblich. Nun hat er dem Stadtrat einen Brandbrief geschrieben: Sein Großvater habe stets von Eichenpfählen gesprochen, was im Zuge der S-21-Bauarbeiten fatal sein könnte - wenn das alte Holz beim Ausheben des Trogs für den Tiefbahnhof mit Sauerstoff in Berührung komme, werde es faulen und damit die Standfestigkeit des Turms gefährden. Auch in einer Festschrift der Bahn von 1987 ist von Eichenpfählen die Rede. Der grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat die Bahn deshalb aufgefordert, "für Klarheit zu sorgen". Die Pfahl-Frage dürfte nicht "wie ein Damoklesschwert über den Arbeiten schweben".

S-21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich dagegen findet, dass bereits Klarheit herrscht: Schon in der Schlichtung 2010 legte die Bahn beurkundete Bauunterlagen von 1914 vor, in denen von "289 Eisenbetonpfählen" die Rede ist. Dietrich findet auch, dass Kuhn das wissen könnte, weil das sogar auf der Webseite der Stadt nachzulesen sei. Er sagt: "Wir hätten uns gewünscht, dass die Stadt als Projektpartner das mit uns intern klärt, bevor man gleich wieder neue Ängste schürt." Im Übrigen, so Dietrich, könne die Bahn "sicher bauen", egal ob Beton oder Holz verwendet wurde: "Es ist hinreichend bewiesen, dass deutsche Ingenieure in der Lage sind, neben stehenden Gebäuden Gruben zu graben." Die Neigung des Turms werde während der Arbeiten ohnehin immer überwacht.

Stuttgart darf wohl bis auf Weiteres Stuttgart bleiben: eine Stadt mit ziemlich schiefen Debatten.

© SZ vom 21.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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