Straßenkinder in der Türkei:Halbtot im Müll

Ein fünfjähriger Straßenjunge wurde in Istanbul fast totgeprügelt. Sein Schicksal hat in der Türkei eine Debatte um minderjährige Bettler entfacht - und um die Behörden, die so offensichtlich versagen.

Kai Strittmatter

Zwei Straßenkehrer fanden ihn, dachten zuerst, da liege eine Puppe. Es war aber Bedrettin K., fünf Jahre alt, der da im Müll lag. Sein Körper leblos, ein Auge schwarz von einem Faustschlag, blaue Flecken, Schnittwunden.

Straßenkinder in der Türkei: Einkaufsstraße in Istanbul: Das Schicksal des kleinen Bedrettin hat in der Türkei eine Debatte über minderjährige Bettler ausgelöst.

Einkaufsstraße in Istanbul: Das Schicksal des kleinen Bedrettin hat in der Türkei eine Debatte über minderjährige Bettler ausgelöst.

(Foto: Foto: dpa)

Seit drei Jahren unterwegs auf den Straßen Istanbuls, um für die Eltern Geld zu verdienen. Mit dem Betteln. Mit dem Verkauf von Papiertaschentüchern. Ein Kind, zuerst um sein Leben betrogen, nun um sein Leben kämpfend.

Bedrettin liegt auf der Intensivstation. Bevor die Ärzte ihn in Tiefschlaf versetzten, konnte er ihnen noch erzählen was geschehen war. Wie wieder einmal der Vater und zwei andere Verwandte ihn und die Mutter geschlagen hatten, damit sie zum Betteln gingen.

"Bedrettin ist ein Symbol"

Wie er versuchte, die Taschentücher an Passanten zu verhökern. Wie mit einem Mal die anderen Jungen da waren: der 11-jährige M. S. und zwei seiner Kumpel. Ohne es zu wissen, war Bedrettin in ihrem Territorium unterwegs. Sie prügelten ihn. Stachen mit dem Messer auf ihn ein. Fesselten ihn. Und warfen ihn eine Brücke hinunter.

Am Sonntagabend wurde er im Müll gefunden, nun bekam er Besuch vom Bürgermeister von Istanbul: "Bedrettin ist ein Symbol", sagte Kadir Topbas nach seiner Visite im Krankenhaus. "Da draußen gibt es Hunderte Bedrettins, die misshandelt werden." Kinder wie Bedrettin sind nicht obdachlos, sie haben Eltern. Ein Zuhause ist das wohl kaum, Bedrettin hat eine Adresse, wo er die Nächte verbringt. Dort leben die Frau und der Mann, die ihn gezeugt haben und ihren Sohn schon mit zwei Jahren auf die Straße geschickt haben.

Die Istanbuler debattieren nun, wieder einmal, über Eltern, die so etwas ihren Kindern antun. Über das Dorf Turgutlu in der Provinz Adana, aus dem Bedrettins Familie kommt und das sich schon seit Jahren einer zweifelhaften Berühmtheit erfreut: Vier von fünf Dorfbewohner, schreiben die Zeitungen, lebten vom Betteln.

Die Großmutter des kleinen Bedrettin sagte der Zeitung Milliyet, die meisten Verwandten seien in Istanbul, "arbeiten". Welche Arbeit, fragte der Reporter. "Schau", antwortete ein junger Mann: "Ich hab' dich gefragt, ob du eine Zigarette hast, und du hast mir eine gegeben. Ich hab' dich gefragt, ob du Feuer hast, und du hast sie mir angezündet. Habe ich dich gezwungen?"

Gezwungen werden die Kinder. Die Istanbuler sprechen nun auch über ihre Behörden, die so offensichtlich versagen. Fünfmal haben Polizei und Sozialhelfer den kleinen Bedrettin auf der Straße aufgelesen, das erste Mal, als er zwei Jahre alt war, fünfmal haben sie ihn zur Familie zurückgetragen und es bei einer Geldstrafe belassen.

"Ich kann nicht arbeiten, aber meine Kinder können es"

Auf die Vorhaltung der Polizei, er sei gesund und könne sich doch einen Job suchen, antwortete Vater Ahmet K., er fühle sich "zu schwach": "Ich kann nicht arbeiten, aber meine Kinder können es." Bedrettin K. hat noch drei Geschwister. Den Eltern wird nun die Obhut über die Kinder entzogen, diese sollen in ein Heim. Die Kritik an den Behörden aber hält an.

4000 Kinder zum Betteln geschickt

"Es gibt viel zu wenig Heime in der Türkei", sagt Ferhat Sahin, einst selbst Straßenkind und heute stellvertretender Leiter des Vereins "Kinder der Hoffnung" der SZ: "Meist werden die Kinder zu ihren Familien zurückgegeben. Die Lage ist schlimmer als vor zehn Jahren. Migranten aus 80 Provinzen strömen in die Stadt. Viele Kinder werden süchtig, schnüffeln Klebstoff."

Das Istanbuler Sozialamt schätzt die Zahl der Kinder, die von ihren Familien oder aber von landesweit operierenden Gangs zum Betteln geschickt werden, auf 4000. "In den Straßen wird Geld gemacht, von den Familien und Banden, die die Kinder losschicken", sagt Vereinschef Yusuf Kulca. Er fordert: Gebt den Kindern kein Geld mehr, kauft ihnen keine Taschentücher mehr ab. "Jeder Cent, den wir ihnen geben, hält sie auf der Straße fest."

Der Täter, M.S., ist gefasst. Sein Vater ist Lkw-Fahrer, die Familie einst aus Mardin nach Istanbul zugezogen, neun Kinder sind sie. Eine Anklage wird es nicht geben, M. S. ist erst elf. Auch er wird ins Kinderheim kommen.

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