Strafvollzug in den USA:Wo der Ballast gläubig wird

Der Leiter von Amerikas umstrittenstem Gefängnis will die Insassen mit Gospel und Gottesdiensten auf den rechten Weg führen. Doch heilig sind seine Absichten nicht. Die Bibelschule für Mörder ist vor allem eine Goldgrube.

Jonathan Fischer

Nach der Abzweigung vom Highway 61 schlängelt sich die Straße endlose 20 Meilen durch grünes Dickicht. Ein vergessener Zipfel Wildnis im äußersten Nordwesten Louisianas - wenn da nicht dieser Ort wäre, den hier alle nur "The Farm" nennen. 18 000 Acker Grünland, auf drei Seiten vom Mississippi umgeben und mit Stacheldraht und Wachtürmen gesichert.

Strafvollzug in den USA: Das berüchtigte Gefängnis Corcoran in Amerika

Das berüchtigte Gefängnis Corcoran in Amerika

(Foto: Foto: ap)

"Angola, Lousiana State Penitentiary" prangt es über einer von Uniformierten gesicherten Zaunlücke. Angola ist das größte Hochsicherheits-Gefängnis der USA. Die meisten Insassen werden hier sterben. Nur der Sarg oder eine Begnadigung, so heißt es, kann einen aus Angola rausbringen.

Zur Zeit arbeiten über 5100 Schwerverbrecher auf den Feldern der ehemaligen Plantage, die ihren Namen einem Herkunftsland der Sklaven verdankt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird sie als Gefängnis genutzt. Ansonsten scheint sich nicht allzu viel geändert zu haben: 77 Prozent der Insassen sind schwarz. Das Wachpersonal dagegen besteht fast nur aus Weißen. Ein typisches amerikanisches Gefängnis also?

Vor der Einfahrt eine Autoschlange. Schließlich lockt diesen Sonntag das viermal jährlich stattfindende "Prison Rodeo" knapp 8000 Besucher zur "Farm". Ein Wachmann beugt sich ins Auto: "Drogen oder Waffen? Das Bier da müssen Sie ausschütten!"

Die gerade geöffnete Dose Budweiser macht eine Pfütze auf dem Asphalt. Dann geht es im Schritttempo durch gepflegte Rasenflächen - in dem Klotz zur Linken, der an ein Bürogebäude erinnert, warten 91 Männer auf die Vollstreckung ihres Urteils durch die Giftspritze.

Baumwolle pflücken für vier Cent die Stunde

Ihren Horror kann man nur erahnen. Täglich verbringen sie 23 Stunden in der Zelle, manche seit vielen Jahren, die Mahlzeiten werden durch einen Schlitz geschoben. Vom Rodeo werden sie nur den erhöhten Geräuschpegel vor den Fensterlöchern mitbekommen.

Die Arena steht auf einer grünen Wiese, eine Meile gefängniseinwärts. Nebenan weiden Kühe, Reiher kreisen über Fischteichen. Wochentags könnte man Trupps von Gefangenen sehen, die beaufsichtigt von berittenen Wärtern Baumwolle pflücken. Acht Stunden täglich, für vier Cent die Stunde.

Doch die Häftlings-Camps sind nur als Silhouetten am Horizont zu erahnen. Erst die penible Leibesvisitation vor der Arena erinnert daran, dass man sich hier im einstmals "bloodiest prison of America" befindet.

Konservative preisen Angola heute als leuchtendes Vorbild für Reformen: Nicht nur wegen des Rodeo-Spektakels, in dem verurteilte Mörder sich von wilden Stieren auf die Hörner nehmen lassen. Gefängnisdirektor Burl Cain hat in seinem Gefängnis Bibelkreise, eine christliche Bibliothek und einen Studiengang für Theologie eingerichtet - seitdem ist die Anzahl der Morde und Gewalttaten in Angola signifikant zurückgegangen.

Außerdem dürfen die Insassen Football trainieren, gehören ein Sterbehospiz, eine Drogenklinik, eine eigene Zeitung und ein "Human Relations Club" zu den "Privilegien" von Angola. Und ein Radiosender, der rund um die Uhr Gospel sendet.

Mörder backen Kekse

"Ich möchte so viele Seelen retten wie möglich", sagt Cain. Der untersetzte Direktor lässt sich von ein paar Häftlingen sein Auto waschen, sein Angelzeug richten und eine Limo nach der anderen bringen, während er seinem Gast jovial Cookies anbietet: "Die hat Howard gebacken, ein Mörder - Howard komm her, ein Journalist will dich sprechen, gefällt es Dir hier?"

Der alte schwarze Mann mit den blutunterlaufenen Augen nickt unterwürfig "Yessuh!" Er persönlich würde einen bekehrten Christen wie Howard ja freilassen, sagt der Südstaaten-Baptist Cain. Aber Gesetz sei eben Gesetz. "Gott hat diese Männer hierher geschickt und ich bin sein Werkzeug".

Wo der Ballast gläubig wird

Kritiker sehen Cain eher als Verpackungskünstler: Einer, der ein durch und durch rassistisches Gefängnissystem als "Bibelschule für Mörder" verkauft. Und dabei verschleiert, dass seine "Farm" Teil einer blühenden Gefängnisindustrie ist.

Laut Justizministerium ist 2005 bei sinkender Kriminalität die Zahl der Häftlinge erneut gestiegen. Auf über 2,2 Millionen. Die reichste Nation der Welt hat heute weltweit die meisten Gefangenen. Auf die USA mit nur fünf Prozent der globalen Population entfällt ein ganzes Viertel der Gefangenen dieser Welt.

Dabei sind Afroamerikaner und sozial Schwache hinter Gittern eklatant überrepräsentiert: "Wir sperren unsere Armen, unsere Ungebildeten, unsere Labilen und Süchtigen ein", wettert etwa Jesse Jackson, "während andere Länder ihnen Behandlung, Heilanstalten und psychologische Betreuung zukommen lassen".

Afroamerikaner stellen knapp die Hälfte der US-Gefängnispopulation, obwohl sie nur 12 Prozent der Bevölkerung ausmachen. "Jeden Tag" schreibt der Soziologe Paul Street, "stehen 30 Prozent der schwarzen Männer zwischen 20 und 29 Jahren unter der Aufsicht der Kriminaljustiz - entweder im Gefängnis oder auf Bewährung."

Gefängnis und Basketball: Der afroamerikanische Alltag

Gefängniserfahrung gehört zum afroamerikanischen Alltag wie Basketball und Gospelgottesdienste. In den vorwiegend schwarzen Inner Cities wachsen Kinder in dem Gefühl auf, dass es normal ist, wenn ihre älteren Brüder, Väter und eventuell sie selbst eingesperrt werden.

"Das massive Gefängnisbauprojekt, das in den achtziger Jahren begann", schreibt Angela Davis, Geschichtsprofessorin an der University of California und einst selbst als Black Panther-Aktivistin in Haft, "schaffte die Mittel, all das zu konzentrieren und zu handhaben, was das kapitalistische System implizit zu menschlichem Ballast erklärt hatte".

Die meisten Gefängnisse haben seitdem die Berufsbildung von Häftlingen beschnitten, Bibliotheken geschlossen, Stipendien für Studenten hinter Gittern abgeschafft. Dutzende neuer Hochsicherheits-Gefängnisse für besonders widerspenstige Häftlinge entstanden, während immer mehr Nervenheilanstalten geschlossen wurden.

Das Ergebnis: Haftanstalten bilden heute die Endstation der psychisch Kranken in Amerika. Und wer gesund hineinkommt, verlässt es nicht selten als gebrochener Mensch: So müssen physisch schwächere Gefangene oft den eigenen Körper verkaufen.

300.000 Vergewaltigungen im Jahr

Eine Tortur, die im Gefängnis oft zur "Normalität" gehört. Initiativen wie "Stop Prisoners' Rape" schätzen, dass jährlich 300.000 Männer und Frauen hinter Gittern vergewaltigt werden - mit stillschweigender Duldung der Behörden.

Burl Cain verzieht den Mund zu einem süffisanten Lächeln. "In Angola gibt es solche Probleme kaum noch. Weil wir keine Gangs haben. Früher stopften sich die Gefangenen vor dem Schlafengehen Lagen aus Zeitung unter die Kleidung - als Schutz vor Messerattacken. Heute lesen sie ihre Bibel."

Keine Frage: Die Atmosphäre im einst blutigsten Gefängnis Amerikas ist seit einer Gerichtsklage in den achtziger Jahren friedlicher geworden. "Es braucht vier Dinge, um ein gutes Gefängnis zu führen", sagt Cain und streckt seine Stiefel von sich: "Gutes Essen, gute Medizin, gute Spiele, gute Gebete".

Ihm gehe es um die moralische Rehabilitation der Insassen. "Gläubige akzeptieren es eher, im Gefängnis zu sein und machen aus dieser Zeit das Beste. Nur die Hoffnungslosen greifen zu Gewalt". Als Christ lasse er es sich nicht nehmen, jedem Todeskandidaten bei der Hinrichtung die Hand zu halten. Durchschnittlich passiert das einmal im Monat.

Was aber passiert mit den tausenden von Haftentlassenen? "Die verbitterten Graduierten des industriellen Gefängniskomplexes," schreibt Paul Street, "kehren in ihre schwarzen Viertel zurück und vertiefen dort die Konzentration von Armut, Kriminalität, Verzweiflung".

Der Knast-Tourismus boomt

Ein Reformgesetz erklärte 1996, dass wegen Drogendelikten verurteilte Ex-Häftlinge zeitlebens alle Ansprüche auf staatliche Hilfe oder Lebensmittelmarken verwirken. Eine Regel, die nicht einmal Schwangere, Kranke und HIV-Infizierte ausnimmt - und vor allem Afroamerikaner der Unterschicht trifft: Geschätzte zwei Drittel von ihnen sind aufgrund der immer schärferen Mindeststrafen für den Besitz und Handel von Crack ins Gefängnis gekommen.

In Alabama und Florida haben verurteilte Kriminelle gar alle Bürgerrechte einschließlich des Wahlrechts für immer verwirkt. Und auch auf dem Arbeitsmarkt haben Ex-Häftlinge kaum Chancen. Politiker, die das ändern wollen, laufen Gefahr, als "soft on crime" gebrandmarkt zu werden. In Amerika immer noch eine politische Todsünde.

Ihren Rückhalt findet die Gefängnislobby gerade in verarmten, industrielosen Landstrichen wie der Gegend um Angola, Louisiana. Mit 1800 Bediensteten gehört die Haftanstalt zu den größten regionalen Arbeitgebern.

"Die weißen Bewohner der ländlichen Prison Towns", schreibt Paul Street, "bauen ihre ökonomischen Träume auf der Wegschließung unfreier Schwarzer aus verarmten Innenstädten". Dank Prison-Rodeo und christlichen Gruppen, die Betriebsausflüge in die "Hölle" nach Angola buchen, kurbelt Cain den Tourismus an. Täglich kommen Schulklassen in das Gefängnis-Museum: Ein Besuch hier soll sie gegen eine Kriminellenlaufbahn immunisieren.

Gesichter von zur Strecke gebrachten Ausreißern pflastern die Wände. In der Mitte ein elektrischer Stuhl. "Oh Jesus have mercy on my dying soul", tönt der Gefangenenchor von der CD im Museumsshop. Doch die Schulkinder kaufen sich lieber die Tassen und T-Shirts, auf denen "Angola Prison" steht. Das kommt cooler als jeder Bibelspruch.

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