Stalker:Im Sog der Begierde

Stalking - der Wahn der Verfolgung: Lange galt es als Luxusproblem der Reichen und Schönen, doch es kann jeden treffen: Was Leute treibt, andere so heftig zu belästigen, dass niemand mehr helfen kann.

Von Uwe Ritzer

Diese Stimme ist eine Waffe. Die Worte dieses Mannes prasseln wie die Fäuste, mit denen er ihr "aufs Maul gehauen" hat, "weil sie pampig wurde". Die Sätze schmerzen, so wie seine Fußtritte der Frau weh taten, "als sie schon im Dreck lag".

Doch das Schlagen und Treten sei nur eine "legitime Notwehrmaßnahme" gewesen, presst die Stimme nervös heraus, die nun gehetzt wirkt und immer schneidender klingt.

"Stalking", das bedeute doch sich "anpirschen" und "anschleichen", meint der Mann. Ihm aber sei es doch nur darum gegangen, dieser unmöglichen Frau, die einmal seine Geliebte war und nun nichts mehr von ihm wissen will, "ganz klar die Grenzen zu zeigen". Sehen sollte sie, "dass man mit mir nicht alles machen kann".

An dieser Stelle überschlägt sich die Stimme fast vor Aufregung, und Jens Hoffmann klickt sie weg. "Der Typ ist extrem gewalttätig, aber so ticken solche Leute", sagt er, während er auf seinem Notebook eine andere Passage des Interviews mit dem Mann sucht, dessen Namen er verschweigt, dessen Alter er mit Mitte 40 angibt und über den er sagt: "Diese völlige Realitätsverzerrung ist typisch für einen Stalker."

Abenteuerliche Geschichten

Stalker - der Begriff stammt aus der englischen Jägersprache und meint ursprünglich einen Waidmann, der sich in freier Wildbahn anschleicht, ein Tier belauert, ihm nachstellt, bis er es zur Strecke bringen kann.

Seit Jahren beschäftigt sich Hoffmann mit dem Phänomen des Stalking, als Psychologe an der Darmstädter Universität hat der 36-Jährige mit seinen Mitarbeitern Hunderte von Fragebögen ausgewertet und Interviews geführt.

Er hat Leute getroffen, die ihre Opfer mit Briefen, SMS und E-Mails bombardieren, die ihnen vor der Arbeitsstelle und der Haustür auflauern, sie ununterbrochen anrufen, Tag und Nacht. Sie schicken Blumen und Pralinen, hetzen mit abenteuerlichen Geschichten Familienmitglieder und Bekannte auf das Objekt ihrer krankhaften Begierde, bestellen in dessen Namen Versandware, verfolgen es mit dem Auto und entwickeln bei all dem ungeheure Energie und Einfallsreichtum.

Gejagt, gehetzt, hilflos

Die Opfer solcher Nachstellungen fühlen sich gejagt, gehetzt und hilflos. Der Bundesrat hat deshalb gerade ein Gesetz initiiert, das sie künftig bessern schützen und es ermöglichen soll, Täter mit bis zu zehn Jahren Gefängnis zu bestrafen. Denn Stalking ist nach Ansicht von Fachleuten wie Jens Hoffmann nichts anderes als ein Gewaltverbrechen. Der Psychoterror zermürbt das Opfer an Seele und Leib. Und der Täter wird gleichzeitig immer besessener.

Auch James S. ist in diesen Tunnel geraten, der ihn die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen ließ. Einmal wurde er beobachtet, wie er zärtlich den Sattel des Fahrrades von Monika H. streichelte.

Die allein erziehende Mutter hatte er im unterfränkischen Goldbach kennen gelernt. Ein Flirt, ein kurzes Techtelmechtel, nichts Ernstes, für sie zumindest. Die 42-Jährige gab ihm den Laufpass, bevor mehr daraus werden konnte. Fortan schrieb ihr James S. unablässig und tapezierte die Bushaltestellen des Ortes mit Plakaten.

"Monika, verlass James nicht", stand darauf. Zeitweise tauchte der Lagerarbeiter täglich vor dem Supermarkt auf, in dem sie an der Kasse arbeitete. Er himmelte sie durch die große Fensterfront an, warf ihr Kusshändchen zu und lungerte stundenlang auf dem Parkplatz vor dem Geschäft herum. Die Polizisten, die Monika H. zur Hilfe gerufen hatte, erinnern sich noch an seine Ausflüchte: "Ich liebe sie doch nur", sagte er. "Nie würde ich ihr etwas tun."

Stalker sind Identitätsvampire

"Stalker sind Identitätsvampire, sie saugen die Persönlichkeit ihrer Opfer regelrecht aus", sagt Jens Hoffmann. Zusammen mit Kollegen der Darmstädter TU-Abteilung für forensische Psychologie hat er sich in einem Forschungsarbeitskreis in den vergangenen Jahren ins Stalking hineingesteigert, im guten Sinne natürlich. Heraus kam eine Studie darüber, was Menschen bewegt, andere so lange zu belästigen, bis diese erschöpft zusammenbrechen.

Hoffmanns Interesse an diesem Thema keimte auf, als er sich während des Studiums ein halbes Jahr lang in England in die Kriminalpsychologie vertiefte.

Zurück in Deutschland, jobbte er in der Nachrichtenredaktion eines großen Fernsehsenders. Als sich dort herumsprach, dass er Psychologe war, kamen ab und an Moderatoren an seinen Schreibtisch und zeigten ihm Briefe von Verehrern, von denen sie teilweise schon seit Jahren mit Bewunderung zugeschüttet wurden.

Sie wurden sie einfach nicht mehr los, und es war ihnen mulmig geworden. Nun begann Hoffmann immer stärker den Fragen nachzugehen, "warum Leute so etwas schreiben, was sie vor sich sehen und was sie dabei fühlen".

Lange galt Stalking als Luxusproblem der Prominenten, Reichen und Schönen. Als das von Brad Pitt zum Beispiel.

Im Sog der Begierde

Drei Jahre lang wurde der Schauspieler von einer jungen Frau verfolgt, die schließlich sogar durch ein offenes Fenster in seine Villa stieg.

Seinen Kollegen Mel Gibson verfolgte ein 34-Jähriger, um mit ihm zu beten, wie er nach seiner Festnahme zu Protokoll gab. Der Rockmusiker Lenny Kravitz wunderte sich über die fremde Frau, die bei einer Party in seiner Küche mit seiner Familie plauderte. "Ich werde deine Frau im Tode sein", beschied sie Kravitz, als der fragte, wer sie sei. "Anna, rette mich", brüllte ein nackter Stalker im Garten eines Nachbarn von Tennis-Schönheit Anna Kurnikova, als er festgenommen wurde. Er hatte vorher eine riesige Bucht durchschwommen, um zu ihr zu gelangen, sich dann aber im Grundstück geirrt.

Der wichtigste Rat

Nicht immer gehen Stalking-Fälle so glimpflich aus. John Hinckley wollte Schauspielerin Jodie Foster imponieren, schoss deshalb 1981 auf den US-Präsidenten Ronald Reagan und verletzte ihn.

Ein Jahr zuvor hatte Stalker Mark Chapman in Manhattan John Lennon ermordet. Auch in Deutschland gibt es Fälle von Prominenten, die ausspioniert, belästigt und aufdringlich von krankhaften Fans verehrt werden. Harald Schmidt, Jeanette Biedermann, Sven Hannawald, Sabine Christiansen - die Liste ist lang.

"Je mehr vom Privatleben der Stars über Talkshows und die Regenbogenpresse öffentlich wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Opfer von Stalkern werden", hat Hoffmann herausgefunden.

Für seine Dissertation über Prominenten-Stalking musste er gleichwohl einen großen Anlauf nehmen. Bei seinem Fernsehsender reagierten manche sehr verhalten, als er seine Fragebögen austeilte. "Woher wissen Sie von meinem Problem", hat Hoffmann häufig gehört. Das Thema wird gerne tabuisiert.

Aus Stichproben leitet der Forscher ab, dass fast 80 Prozent aller TV-Moderatoren Erfahrungen mit Stalkern haben. "Vielleicht, weil sie zu festen Zeiten zuverlässig da sind und ein Stalker so leichter ankoppeln kann", vermutet er.

Inzwischen berät und unterstützt Jens Hoffmann eine ganze Reihe prominenter Opfer. Sein wichtigster Rat: Von Anfang an auf nichts eingehen, keinen Brief beantworten und auf keinen Versuch der Kontaktaufnahme reagieren.

So glücklich wie ein normaler Fan über die freundliche Reaktion sein mag - ein Stalker ist spätestens ab diesem Moment überzeugt, dass zwischen ihm und dem Star eine ganz besondere und enge Beziehung besteht. Er stellt ihn auf ein hohes Podest.

Aus Verehrung wird schnell Hass

Wird aber diese krankhafte Liebe zur überlebensgroßen Figur nach früheren Kontakten plötzlich unterbrochen und enttäuscht, wird aus grenzenloser Verehrung schnell grenzenloser Hass.

"Stalker sind extrem leicht kränkbar", sagt Hoffmann. Zum Beleg nimmt er wieder sein Notebook und klickt zurück zur Befragung des anonymen Mannes. Es erklingt erneut diese unheimliche Stimme, der Mann erklärt, seine Ex-Geliebte, die er auf der Straße zusammenschlug, hätte ja nur mit ihm reden und einen Termin machen müssen, so wie sich das gehöre.

Aber nein, einfach weggedreht habe sie sich, ihn stehen lassen. Wo er doch zum x-ten Mal schon zu ihr gefahren sei. Von wegen schwer mitgenommen von seinen dauernden Nachstellungen. So etwas könne man doch nicht durchgehen lassen, wo komme man da hin.

Im Sog der Begierde

Das Opfer dieses Mannes war nicht prominent, und das ist ein Trend, den Hoffmann nun verfolgt. Menschen von nebenan werden Opfer von Stalkern. Das habe mit zunehmender Bindungslosigkeit und höherer Mobilität der Gesellschaft zu tun, vermutet er, und - ganz banal - auch damit, dass es immer neue elektronische Kommunikationswege gibt, die man für Psychoterror nutzen kann.

Frauen sind weit häufiger Opfer von Stalking als Männer, auch das hat Hoffmann mit seinem Arbeitskreis herausgefunden. Die Täter sind oft zwischen 30 und 40 Jahre alt, ledig, gut ausgebildet und überproportional oft arbeitslos. In 95 Prozent der Fälle gab es zwischen ihnen und ihrem Opfer eine Vorbeziehung.

Doch nicht immer muss dies eine "verhängnisvolle Affäre" gewesen sein, wie in dem Kinofilm, in dem Michael Douglas einen Mann spielt, der einen Seitensprung mit einer von Glenn Close verkörperten Stalkerin bitter bezahlt. Am Ende seines Martyriums bringt er sie in einer Mischung aus Verzweiflung, Notwehr und Hass um.

In Goldbach bezahlte das Stalking-Opfer Monika H. mit dem Leben. Die Supermarkt-Kassiererin hatte James S. angezeigt, schon aus Angst um ihre Kinder.

Spätestens als er ihren Ex-Mann um Hilfe gebeten hatte, um bei ihr zu landen, war er ihr unheimlich geworden. Ein Amtsgericht verbot James S. jeden Kontaktversuch und drohte ihm andernfalls Ordnungsgeld und -haft an. Er hielt sich nicht daran und zahlte lieber.

26 Mal zeigte ihn Monika H. wegen Verstoßes gegen den Richterspruch und das Gewaltschutzgesetz an. Immer wieder nahmen Polizisten den Stalker ins Gebet, überredeten ihn sogar zum freiwilligen Gang in die Psychiatrie. Die Ärzte erklärten ihn für gesund.

Bei Wohnungsdurchsuchungen fand die Polizei keinen Hinweis auf eine bevorstehende Gewalttat. Eines frühen Abends vor einem Jahr tauchte James S. an der Wohnung von Monika H. auf. Mit elf Schüssen tötete er die Frau, die zwölfte Kugel jagte er sich selbst in den Kopf.

Besitzen und kontrollieren

"Stalker sind aber keine Monster und keine gefühlskalten Psychopathen", sagt Jens Hoffmann, "sondern meistens sehr unglückliche Menschen mit Persönlichkeitsstörungen." Sie glauben nicht, dass sie das Problem sind.

In ihren Beziehungen klammern sie, wollen den anderen besitzen und kontrollieren. Manchen geht es um Rache, andere wollen Vorurteile ausleben oder Angst und Schrecken verbreiten. Hoffmann und die anderen Darmstädter Psychologen haben Fragebögen ausgewertet, die mehr als 500 Opfer und knapp 100 Täter ausgefüllt hatten.

Viele Stalker geben bereitwillig und gerne Auskunft über ihr Tun. Manche aus Leidensdruck und im Wissen, dass bei ihnen etwas falsch läuft. Andere aus purem Narzissmus. Sie sind süchtig nach Aufmerksamkeit. Die betteln bei Hoffmann, er möge sie doch mitnehmen in eine Fernsehtalkshow oder wenigstens mit ihnen einen Ratgeber für Betroffene schreiben.

Als Kind ein Trauma

Den Verfolgten empfiehlt Hoffmann den Gang zur Polizei. Doch er hat festgestellt, dass viele Beamte die Dimension von Stalking unterschätzen. Jedes zweite Opfer hatte der Darmstädter Studie zufolge das Gefühl, die Polizei nehme den Fall nicht ernst. Die klassische Aussage gegenüber terrorisierten Frauen: "Freuen Sie sich doch über Verehrer!"

Ehe Hoffmann noch einmal die Stimme vom Notebook sprechen lässt, erzählt er von Günther Parche. Der stach am 30.April 1993 beim Tennisturnier am Hamburger Rothenbaum der damaligen Weltranglisten-Ersten Monica Seles ein Messer in den Rücken.

Sie überlebte, wurde körperlich wieder gesund, litt aber fortan psychisch dermaßen, dass sie nie mehr den Weg zurück an die Tennis-Weltspitze fand. Parche gab an, ein leidenschaftlicher Fan von Steffi Graf zu sein - er habe deren Hauptkonkurrentin aus dem Weg schaffen wollen.

Bei den späteren Untersuchungen des Falles wurde angeführt, dass Karche als Kind ein schweres Trauma erlebt habe. Für zwei Wochen sollte er einmal zu seiner Tante, als seine Mutter ins Krankenhaus musste. Die Mutter aber hat ihn nie mehr zu sich genommen. "Viele Stalker haben in der Kindheit keine Bindungsqualität erlebt", sagt Hoffmann, "sie haben ihr Elternhaus als kalt und gefühllos empfunden."

Er ruft auf dem Notebook ein letztes Mal die unheimliche Stimme auf. Der Mann rühmt seine Mutter. Er lebte fast vierzig Jahre bei ihr, bis sie starb. Sie hat ihn dominiert und ihm immer gezeigt, wo es lang geht. "Manchmal", quäkt die Stimme aus dem Computer, "hätte ich sie fesseln und ihr den Mund zukleben können, um endlich einmal ausreden zu können." Als er das sagt, klickt ihn Hoffmann endgültig weg. "Ein krankes Gehirn", meint er. "Aber es hat alles seine Logik."

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