St-Germain-des-Prés:Die Liebe im Dreieck der Denker

Welt der Philosophen, Künstler und Voyeure: Ein Streifzug auf den Spuren Jean-Paul Sartres durch die legendären Cafés im Herzen von Paris.

Von Gerd Kröncke

Natürlich ist es nicht mehr, wie es war, aber ein gewisser Mythos ist geblieben. Saint-Germain-des-Prés hatte seine legendäre Zeit zwischen den Kriegen, vor allem aber nach der Libération, als die Jungen die Befreiung ganz und gar wörtlich nahmen und auskosteten und als, Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre, Saint-Germain zum Zentrum einer Lebensart wurde.

Jean-Paul Sartre

"Der hässliche, kluge Mann in der Rue Bonaparte": Jean-Paul Sartre in den Siebziger Jahren.

(Foto: Foto: dpa)

In den Kellern des Viertels zwischen der Seine und dem Jardin du Luxembourg wurde die Welt neu erklärt und die Franzosen ließen sich von den amerikanischen Befreiern wieder Jazz vorspielen wie vor dem Kriege. Die Jungen, wenn sie nicht Jean-Paul Sartre, dem Guru jener Jahre, an den Lippen hingen, gefielen sich in einem Vulgär-Existenzialismus, der mit "Das Sein und das Nichts" des Meisters wenig zu tun hatte.

"Man stahl ab und zu"

"Man stahl ab und zu, ließ sich aushalten oder handelte ein bisschen mit Rauschgift", heißt es in einem Band der Fünfzigerjahre. Das hörte sich faszinierend triste an.

Saint-Germain-des-Prés ist längst chic geworden und teurer kann man nicht wohnen. Und doch ist es jenes Viertel von Paris, das sich sein Flair trotz aller Kommerzialisierung bewahrt hat. Im Café de Flore zu sitzen und die Welt vorbeiziehen zu lassen, das kann noch immer eines der stillen, wohlfeilen Vergnügen sein. Man denkt sich für Vorübergehende Liebesgeschichten aus, die man selbst gern erlebt hätte.

Das Dreieck der nebeneinander liegenden Cafés Flore und Les Deux Magots und der Brasserie Lipp gegenüber war lange Zeit ein intellektuelles Zentrum. Ist es wohl heute noch. Sartre und seine Gefährtin Simone de Beauvoir hatten sich irgendwann für das Flore entschieden, weil das, so hatte Sartre selbst festgelegt, für die Jungen und das Deux Magots mehr für die Alten zuständig war.

Der hässliche, kluge Mann in der Rue Bonaparte

Das war zu einer Zeit, als er, Sartre, selbst noch jung war. Der hässliche kluge Mann wohnte eine Weile in der Rue Bonaparte, die zur Seine führt, und hier haben er und die Beauvoir Hof gehalten. Hier konnte er unbehelligt arbeiten und im Winter war es warm. Damals war das Viertel, war der Boulevard Saint-Germain-des-Prés noch nicht von den Reichen und Schönen entdeckt, die Gegend unweit der Sorbonne war billig. Selbst als das Café Flore schon von Touristen heimgesucht wurde, zu Beginn der Sechzigerjahre, war die Gegend noch Studententerritorium.

Manche haben sich ihre Affinität bis heute bewahrt. Der grand crème, bei dem Kaffee und heiße Milch getrennt serviert werden, ist nicht sehr groß, aber köstlich. Zum Beispiel saß hier bis vor einer Weile regelmäßig ein junger Mensch namens Bruno de Stabenrath, um sich täglich zu verlieben, stündlich mitunter und "manchmal sogar sekündlich". Die wirklich ernsthaften Geschichten sind sowieso Liebesgeschichten.

"Ich kann hervorragend liegen, ich bin bis zum Hals gelähmt."

Bruno de Stabenrath schreibt, dass er sich dazu ab Ende April ins Café de Flore setzte, immer an denselben Tisch. Da schlürfte er eine Erdbeermilch und schaute den Amazonen nach, die den Boulevard Saint Germain hinabschlenderten. An der Ecke zur Rue Saint-Benoît gingen sie langsamer, um die Straße zu überqueren, blieben manchmal an der Buchhandlung La Hune stehen, manche kamen ins Café de Flore. Manchmal konnte er anbandeln. La Hune ist eine der wichtigsten Buchhandlungen der Stadt.

Der junge Mann ist Autor eines autobiographischen Buches, das mit der Sentenz beginnt: "Ich kann nicht stehen. Ich kann nicht sitzen. Ich kann hervorragend liegen, ich bin bis zum Hals gelähmt." Als er noch nicht behindert war, bevor ein Autounfall sein Leben radikal veränderte, fühlte er sich im Café de Flore zu Hause und schaute den Mädchen nach. Kein schlechter Platz für Voyeure.

Es ist üblich, die Okkupation von Saint-Germain-des-Prés durch die Touristen zu beklagen. Besonders jetzt im Sommer besetzen sie die besten Tische, zahlen klaglos horrende Preise und ertragen jenen Hochmut, den die Kellner ihnen zumessen. Andererseits ist dies doch immer schon eine Gegend gewesen, die Fremde angezogen hat, und oft verkehrten so viele Nicht-Franzosen hier, dass man als Fremder leicht dazugehören konnte. Der Mythos von Saint-Germain-des-Prés war für Fremde einer der Gründe, überhaupt nach Paris zu kommen.

Nicht alt und schon ein Klassiker

Neulich ist Henri Cartier-Bresson gestorben, für viele der größte Photograph. Er hat auch ein paar wunderbare Bilder in Saint-Germain-des-Prés gemacht. Aber für uns, als wir jung waren, gab es einen, der noch nicht alt und selbst schon Klassiker war. Der Holländer Ed van der Elsken hatte seinen Ruhm mit dem Buch "Liebe in Saint Germain des Prés" etabliert. Dieser wunderbare Bildband prägte für eine Weile die Vision, die junge Deutsche von diesem Viertel hatten. Angeblich zeigte er, "wie eine Gemeinschaft junger Verdammter sich in der unbarmherzigen Großstadt durchs Leben schlägt".

Die Liebe im Dreieck der Denker

So wollten sie auch gerne sein, die Jungen, die im spärlichen Urlaub oder in den Semesterferien an die Seine reisten; denn wer wagte es schon wie Karl Lagerfeld in sehr jungen Jahren und ohne Netz nach Paris zu gehen. Mit der Wirklichkeit hatte das schöne Buch schon nichts zu tun, als es Mitte der Fünfzigerjahre bei Rowohlt erschien.

Es war die Vorstellung einer bitteren Art von Freiheit, vom Existenzialismus, wie ihn sich die Jungen zusammen phantasierten. Dazu gehörte ein bestimmter Frauentyp, der von Juliette Greco verkörpert wurde. Wenn der Alte poetisch wurde, war sie Sartres Muse. Er war sich, wie andere Autoren auch, nicht zu schade, ihr traurig-schöne Chansontexte zu dichten.

Manchmal, auch heute noch, wenn man viel Glück hat, kann man Juliette Greco vorbeigehen sehen. Dann freut man sich, dass es sie noch gibt. Niemand wird sie behelligen. Man ignoriert sie nicht und ist doch diskret. Sie ist die Überlebende einer Zeit, die bereits für Brigitte Bardot Vergangenheit war. Weil die Greco gleich nach dem Weltkrieg schon da war, ist ihr Alter kein Geheimnis. Und sie ist noch immer eine schöne Frau, die es sich sogar leisten kann, dies zu bestreiten. Sie habe, sagte sie kürzlich in einem Interview, nur einen ganz kleinen Spiegel. Sie schminke sich erst ein Auge, dann das andere und dann den Mund, aber ganz schaue sie sich nie an. Sie hat noch einmal, wieder einmal und nicht zum letzten Mal, ein Album veröffentlicht. Eine der beiden CDs hat den schönen Titelsong "Liebt einander oder geht eurer Wege, ohne Lärm und ohne Wellen."

Die neue Diva

Sie hängt an diesem Viertel. Vor ein paar Jahren hat sie sich zur Vorsitzenden einer Bürgerinitiative wählen lassen, die den Ausverkauf an die Luxusläden stoppen will. Weil sich immer mehr Modeläden breit machten und die Buchläden verdrängten, bestand die Gefahr, dass die Atmosphäre des Ortes endgültig verloren ging.

Was man an ihr hatte, wird deutlich, wenn die neue Diva von Saint-Germain-des-Prés auftritt. Carla Bruni kann überhaupt nicht singen, aber das tut sie großartig. Schön ist auch sie. Und wie die Gréco mag und macht sie schlichte Texte, von denen man sich einstweilen nicht recht vorstellen kann, dass sie die Zeit überstehen. Auch sie wohnt in Saint-Germain, in einem Hinterhaus des Boulevard. Hinterhaus bedeutet mitnichten zweite Wahl.

Sie sitzt gelegentlich im Flore, vielleicht mit dem Philosophen Bernard-Henri Lévy, der in Frankreich so erfolgreich und so prominent ist, dass er nur BHL genannt wird. Selbst seine schöne Tochter Justine zitiert den Vater öffentlich bei seinem Markenzeichen. Die junge Frau hat in der vorigen Saison ein Buch vorgelegt, ihr zweites, es gibt sich autobiographisch.

Sie selbst tritt auf in dem Roman, BHL kommt vor, dessen Geliebte Carla Bruni, und es geht zu wie im richtigen Leben. Die Chansonette spannt der Tochter des Geliebten den Ehemann aus. Sitten sind das, Sartre ließ sich von Beauvoir Gespielinnen zuführen, und alle redeten darüber.

Saint-Germain-des-Prés ist eine Ansammlung von Erinnerungen, auch wenn manche inzwischen von teurem Tand oder noch teurerem Design verdrängt werden, dessen Alphabet bei Armani beginnt. Es gibt zum Beispiel nur noch sehr wenige Jazzlokale. Dabei haben hier gleich nach dem Krieg die Amerikaner, die ja Befreier waren, den Franzosen den Jazz nahe gebracht. Schwarze Jazzmusiker fühlten sich zu Hause, weil die Gesellschaft farbenblind war. Inzwischen ist die jazz scene auf die andere Seite der Seine abgewandert.

Wütende Notiz

Aber es gibt noch Orte, die an damals erinnern. Manchmal versuchen mutige Gastronomen, alte Traditionen wieder zu beleben. Dann wird mal ein Café eröffnet, das sich wie ein Atelier gibt oder wie eine Dichterwerkstatt, aber das hält sich alles nicht lange, denn die Zeiten sind nicht mehr danach.

Aber wenigstens sind ein paar Buchhandlungen hinzugekommen. Das "Procure" nahe der großen Kirche Saint-Sulpice zum Beispiel ist zwar auf Religiöses spezialisiert, aber seine anderen Abteilungen sind so gut wie bei jedem anderen Sortimenter.

Die Kirche Saint-Germain-des-Prés, die dem Ort seinen Namen gab, ist die älteste von Paris, in Teilen an die tausend Jahre alt. Dieses Jahr ist Saint-Sulpice, fünf Minuten entfernt, die am meisten besuchte im Quartier, besonders von Amerikanern. Nachdem der Bestsellerautor Dan Brown seinen Schmöker "The Da Vinci Code" (deutsch: Sakrileg) veröffentlichte, ist das Gotteshaus überlaufen, weil der Schriftsteller eine Spur seiner esoterischen Mordgeschichte durch Saint-Sulpice führen lässt.

Das ist deshalb ärgerlich, weil die Kirche bislang immer ein relativ besinnliches Refugium war, nicht direkt auf dem großen Trampelpfad, und man konnte in aller Ruhe die von den Touristen wenig wahrgenommenen großformatigen Fresken des bedeutenden Malers Delacroix bewundern. Ihretwegen kommen nur ein paar Kunstbeflissene.

Gegen den unerwünschten Zulauf ist der Curé nun machtlos. Er hat eine wütende Notiz anbringen lassen, wonach "entgegen den Phantasievorstellungen in einem kürzlich erschienenen Erfolgsroman" die Kirche nichts zu tun habe mit einem heidnischen Tempel, der an dieser Stelle existiert haben soll.

Bei La Hune, gleich neben dem Flore, mag man nach dem Schmöker gar nicht fragen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: