Kriminalität:Wie Cold-Case-Spezialisten Mörder überführen

Eva Gäbl ist Kommissarin bei der Soko Altfälle im Polizeipräsidium München.

Wenn es zu einem alten Fall noch Asservate im Lager der Staatsanwaltschaft gibt, streift sich Eva Gäbl Handschuhe über und nimmt sich Stück für Stück die Beweismittel auf der Suche nach DNA-Spuren vor.

(Foto: Florian Peljak)

Cold Case - so nennt die Polizei Taten, in denen die Spur längst erkaltet ist. Manchmal werden sie doch noch aufgeklärt. Ein Besuch bei der Altfall-Soko in München.

Von Anna Fischhaber und Oliver Klasen

Dass der sogenannte Viktualienmarkt-Mörder zwölf Jahre nach der brutalen Tat überführt werden konnte, liegt an einem Zigarettenstummel - und an der Akribie von Eva Gäbl. Den Zigarettenstummel haben die damals ermittelnden Beamten mitgenommen - vielleicht, weil sie hofften, später ein Indiz zu haben, wenn ein möglicher Verdächtiger dieselbe Marke rauchen würde. Vielleicht auch, weil sie schon ahnten, dass sich die Kriminaltechnik weiterentwickeln würde.

Es war Eva Gäbls Glück. Gäbl ist Kommissarin bei der Soko Altfälle im Polizeipräsidium München. Ihre Mörder jagt sie vom Schreibtisch aus. Die Vergangenheit holt sie immer wieder aufs Neue ein, wenn sie sich durch staubige Akten und die Notizen ehemaliger Kollegen wühlt. Einen ganzen Raum füllen die Akten neben ihrem Büro. Eine Tür weiter ist das Labor. Hier geht es vor allem um Akribie.

Eva Gäbl ist keine Chemikerin, sie hat sich alles selbst beigebracht, nachdem sie von der Münchner Vermisstenstelle zur damals neu gegründeten Altfälle-Soko wechselte. Wenn es zu einem alten Fall noch Asservate im Lager der Staatsanwaltschaft gibt, die sie untersuchen kann, streift sich Eva Gäbl Handschuhe und einen Mundschutz über und nimmt sich Stück für Stück die Beweismittel auf der Suche nach DNA-Spuren vor. "Die DNA kann - im Gegensatz zu Fingerabdrücken - noch immer nicht sichtbar gemacht werden, deshalb müssen die Asservate in Kleinstarbeit untersucht werden", erklärt Eva Gäbl.

So war es auch im Fall Brian D. Es ist das Jahr 1993. Der in München lebende Brite ist auf dem Heimweg von der Kneipe in der Nähe des Viktualienmarktes. Er ist angetrunken, wird überfallen und erschlagen. Auf den schon etwas verblichenen Fotos vom Tatort an der Morassistraße sieht man einen Mann um die 40 in einer Blutlache vor einem Hauseingang liegen, daneben der Zigarettenstummel. Die Ermittlungen bringen damals kein Ergebnis. Brian D. ist ein Zufallsopfer, dem "Viktualienmarkt-Mörder", so nennt die Presse den jahrelang gesuchten Mann, geht es offenbar nur um dessen Geldbörse. 300 britische Pfund und 100 D-Mark erbeutet er.

Zwölf Jahre später nimmt sich Gäbl den Fall erneut vor. Sie untersucht den Stummel und die Hose des Opfers. Zentimeter für Zentimeter klebt sie den Stoff ab und sichert so die DNA-Spuren. An der Innenseite, auf Höhe der Tasche, wo die Geldbörse war, hat sie schließlich Glück: Sie findet dieselbe DNA wie auf der Zigarette. Und auch in der Verbrecherdatei der Polizei gibt es eine Überstimmung, der Täter, Manuel M., ist kein Unbekannter, wegen Diebstahls und Körperverletzung saß er mehrere Jahre in Haft. Zum Zeitpunkt des Mordes lebte er zudem in der Nähe der Morassistraße. Zwar streitet Manuel M. ab, überhaupt am Tatort gewesen zu sein - doch der Zigarettenstummel überführt ihn. 2008, 15 Jahre nach dem Mord an Brian D., wird er zu einer lebenslangen Strafe verurteilt.

Es sind fast ausschließlich schwere Straftaten, derer sich Beamte wie Eva Gäbl annehmen. Mord verjährt nicht, Totschlag meist erst nach 30 Jahren, Vergewaltigung nach 20 Jahren. Wenn ein Verdächtiger nach Jahrzehnten ermittelt wird, führt das bisweilen zu skurrilen Gerichtsprozessen, bei denen gebrechliche Senioren nach Jugendstrafrecht verurteilt werden müssen. Eigentlich ist die Aufklärungsquote bei Mord und Totschlag in Deutschland relativ hoch. Sie liegt bei 95 bis 96 Prozent, schätzt der Kriminalpsychologe Rudolf Egg. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass etwa 30 Fälle bundesweit jedes Jahr unaufgeklärt bleiben. Über die Jahre hinweg hätten sich Hunderte angesammelt, sagt Egg.

"Cold Cases" nennt die Polizei solche Fälle. Fälle, in denen die Spur längst erkaltet ist - und die nach Jahren noch einmal untersucht werden. Oft mit Hilfe neuer Kriminaltechnik. Ende der Neunzigerjahre etabliert sich die DNA-Analyse in Deutschland. Gibt es einen Verdächtigen, kann seitdem zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass er am Tatort war. Man braucht dazu nur ein bisschen Blut, Speichel, Haare oder Sperma - immer weiter ist die Technik verbessert worden, inzwischen genügen kleinste Mengen. Viele Experten sagen, das habe die Arbeit der Mordermittler revolutioniert.

21 Täter in 13 Jahren aufgespürt

Die Münchner Soko Altfälle zum Beispiel hat in den vergangenen 13 Jahren 21 Täter hinter Gittern gebracht. Anfangs waren sie ein größeres Team, inzwischen besteht die Soko nur noch aus Eva Gäbl und einem Kollegen. Die beiden sind bei der Spurensicherung angesiedelt, das heißt, sie sind vor allem dafür zuständig, die alten Asservate mit neuen Verfahren zu untersuchen und so möglicherweise auf die Spur der Täter zu kommen.

Um jeden offenen Fall kümmert sich zusätzlich ein Kollege aus der Mordkommission im Münchner Polizeipräsidium. Er ist für neue Hinweise und Zeugen zuständig. Nebenbei - so ist es auch in vielen anderen Polizeipräsidien in Deutschland. In Großbritannien und in den USA sind dagegen spezielle Cold-Case-Units etabliert, in denen Mordermittler, Spurensicherungsbeamte und Experten für Operative Fallanalyse, sogenannte Profiler, in einer Einheit zusammenarbeiten.

Mehr und mehr setzt auch die deutsche Polizei auf dieses Modell: In mehreren Bundesländern sind in den vergangenen Jahren eigene Kommissionen für ungeklärte Altfälle eingerichtet worden. Im Landeskriminalamt Brandenburg bearbeiten zehn Beamte die Altfälle, es ist eine der größten Einheiten dieser Art in Deutschland. In Schleswig-Holstein sind es inzwischen zwei Kommissare, die nichts anders tun, als ungelöste Fälle noch einmal zu durchforsten, auch in Hamburg gibt es Cold-Cases-Einheiten. In München ist man dagegen auf die Spurensicherung spezialisiert.

Bundesweit einmalig ist das Münchner Waschverfahren. Falls auf den alten Asservaten mit der Abklebetechnik keine brauchbaren Spuren mehr gefunden wurden, kommen sie in einen unscheinbaren grauen Schrank in Gäbls Labor und werden dort mit Ethanol gewaschen. Manchmal entdeckt die Polizistin so doch noch eine DNA. Auch bei Steinen, Schmuck oder Pflanzen, die man aufgrund der Kanten und Unebenheiten nicht richtig abkleben kann, kann das Waschen sinnvoll sein. Das Waschverfahren ist der Grund, warum Mordkommissionen aus vielen Bundesländern ihre hoffnungslosen Fälle manchmal nach München schicken.

Als Eva Gäbl und ihre Kollegen 2004 mit der Arbeit beginnen, müssen sie erst einmal herausfinden, welche Fälle in München und Umgebung überhaupt noch ungeklärt sind. Computer gab es lange Zeit nicht - die Fälle wurden in der Vergangenheit deshalb oft nicht katalogisiert, sondern nur handschriftlich erfasst. Und sie müssen herausfinden, bei welchen Fällen überhaupt Asservate aufgehoben wurden, die sie noch untersuchen können. Von insgesamt 200 ungelösten Altfällen geht man in München inzwischen aus, erzählt Gäbl. 160 Fälle sind bis heute abgearbeitet. Manche mit Erfolg, wie der Fall Morassistraße oder der Fall Sinead O., der in München für viel Aufsehen gesorgt hat.

Die irische Studentin arbeitet im Sommer 1991 im Biergarten am Chinesischen Turm als Aushilfskraft. Sie übernachtet damals in einem Zelt auf dem Campingplatz in Thalkirchen. Am Morgen des 20. August findet ein Arbeiter sie am Isarufer - leblos und halb im Wasser liegend. Die junge Frau wurde vergewaltigt, der Täter hat sie mit einem Messer am Oberkörper attackiert. Acht Mal stieß er zu. Mehr als 40 Bekannte der Irin überprüft die Polizei damals. Ohne Erfolg. Den Beamten bleibt nur die Wäsche des Opfers. Doch die Suche nach Faserspuren liefert kein Ergebnis, die DNA kann damals noch nicht untersucht werden.

Jahrelang lagert die Wäsche in einem Karton, weil alle glauben, das Isarwasser habe alle Spuren getilgt. Bei einer Routineuntersuchung entdeckt Gäbl dann doch noch DNA auf dem Slip des Opfers. Auch in diesem Fall ergibt der Abgleich mit der Polizeidatei einen Treffer. Nach all den Jahren geht es plötzlich ganz schnell: Der Mörder von Sinead O. wird innerhalb von 48 Stunden festgenommen. "Es gehört immer auch ein bisschen Glück zu unserer Arbeit", sagt Eva Gäbl. Je älter der Fall, desto schwieriger sei es, ihn zu lösen - oft gibt es dann keine Möglichkeit mehr, die DNA zu überprüfen. Gerade hat Gäbl einen Prostituiertenmord aus dem Jahr 1966 untersucht. Damals wurden fünf gebrauchte Präservative am Tatort gefunden. "Inzwischen sind nur noch Brösel übrig", erzählt die Polizistin. Dennoch habe sie es geschafft, daraus fünf verschiedene komplette DNAs zu sichern, sagt sie stolz - und hat nun fünf Tatverdächtige.

Theoretisch zumindest. Denn in diesem Fall ergibt ein Abgleich mit der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamtes keinen Treffer. Gäbl kann jetzt nur noch auf den Zufall hoffen: Vielleicht wird einer der DNA-Träger irgendwann erkennungsdienstlich behandelt, vielleicht wegen eines ganz anderen Deliktes? Oder es taucht doch noch ein neuer Hinweis auf einen Verdächtigen auf, dessen DNA man dann vergleichen kann. Gesetzt dem Fall natürlich, der Prostituiertenmörder lebt 50 Jahre nach seiner Tat überhaupt noch.

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