Sibirien:Demonstrationen nach Mall-Brand

Grossfeuer in Einkaufszentrum

Wut und Trauer: In Kemerowo bekunden Menschen ihr Beileid für die Toten aus dem Einkaufszentrum.

(Foto: Alexander Patrin/AP)

In Kemerowo gibt es eine Misstrauensbekundung gegen die Regierung, wie Russland sie lange nicht erlebt hat. Nun reist Putin an.

Von Frank Nienhuysen

Es begann morgens um neun, auf dem zentralen Platz der Räte. Dort, wo das Lenin-Denkmal steht. In Kemerowo, der westsibirischen Industriestadt, in dem am Sonntag ein ganzes Einkaufszentrum ausgebrannt ist, versammelten sich mehr als tausend Einwohner am Sitz der Regionalregierung, sie waren verzweifelt, besorgt, traurig und wütend. Offiziell sind bei der Katastrophe 64 Menschen gestorben, jetzt sickerte durch, dass unter den Toten 41 Kinder sind. Doch viele der Demonstranten glaubten den Zahlen der Behörden nicht.

Sie verlangten Aufklärung der Tragödie, "die Wahrheit". Ein Demonstrant fragte auf einem Plakat "Wie viele Opfer gab es wirklich?". "Wir wollen Gerechtigkeit", forderte ein anderer. Es war eine emotionale Misstrauensbekundung, wie Russland sie länger nicht erlebt hat. Vertreter der Behörden reagierten gereizt und behaupteten, die Opposition hätte die Menschen zu Protesten ermuntert. Es seien gar keine Angehörigen der Opfer unter den Teilnehmern. Die Nachrichtenagentur AP zitierte jedoch die Antwort eines Demonstranten, der gesagt habe, er habe seine Frau, seine Schwester und drei Töchter verloren. Und dass er kein Blut fordere, "die Kinder sind tot, ihr könnt sie uns nicht zurückgeben".

Russische Medien berichteten, dass am Dienstag eine Liste der Opfer kursiert habe, auf der mindestens 150 Familiennamen gestanden hätten. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass es nicht mehr als die bisher offiziellen 64 Toten gegeben habe, denn die Shoppingmall "Winterkirsche" war gut besucht, wie immer am Wochenende. Und praktisch nichts blieb übrig von dem dreistöckigen Gebäude, sogar das Dach stürzte ein.

Als der Brand ausbrach, versagten sämtliche Sicherheitssysteme, der Feueralarm funktionierte nicht. Russlands Chefermittler Alexander Bastrykin sagte, eine ganze Woche vorher sei das System bereits defekt gewesen, und niemand habe es repariert. Türen und Notausgänge waren blockiert, ein Sicherheitsbeamter, so sagte Bastrykin, habe sogar die Lautsprecheranlage des Einkaufszentrums abgeschaltet, nachdem er von dem Brand erfahren hatte. Er wurde festgenommen. Fragen über Fragen - und keine Antworten.

Grobe Nachlässigkeiten beim Brandschutz gab es schon häufiger. Beim Brand eines Nachtklubs in Perm starben 2009 mehr als 150 Menschen, Dutzende Tote gab es auch bei zwei Bränden in psychiatrischen Kliniken.

Aber wie groß die Katastrophe von Kemerowo tatsächlich ist, kann man daran ablesen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nach Sibirien flog und Blumen niederlegte. Als er aufgefordert wurde, Bürgermeister Ilja Serdjuk und den Gebietsgouverneur Aman Tulejew zu entlassen, sagte er: "Alle, die antworten müssen, werden antworten". Er sprach von "Schlamperei und krimineller Nachlässigkeit" und beantwortete damit die Frage, die er selbst gestellt hatte: "Wie konnte das nur passieren?"

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