Missbrauch:Gegen das Schweigen

Missbrauch: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Wer von einem geplanten Raubüberfall erfährt und nicht zur Polizei geht, der kann sich strafbar machen. Bei sexuellem Missbrauch dagegen gibt es keine Anzeigepflicht. Warum eigentlich?

Von Anna Fischhaber

Hinweise hat es gegeben. 20 Jahre lang missbraucht Andreas V. auf einem Campingplatz in Lügde Mädchen. Und niemand stoppt ihn. Eine Jobcenter-Mitarbeiterin, ein Vater und eine Kindergartenpsychologin gehen mit ihrem Verdacht zum Jugendamt, doch es passiert nichts. Im Gegenteil: Die Behörden überlassen dem Pädokriminellen sogar eine Sechsjährige als Pflegetochter.

Ein trauriger Einzelfall? Oder läuft in Deutschland generell etwas schief beim Kampf gegen Kindesmissbrauch? Was tun, damit sich Ärzte, Lehrer, Nachbarn, das Jugendamt verantwortlich fühlen? Was wäre gewesen, wenn es eine Anzeigepflicht gegeben hätte? Wenn alle, die von einem solchen Verdacht erfahren, diesen bei der Polizei melden müssen. Um sich nicht selbst strafbar zu machen.

Hätte das Martyrium der Kinder von Lügde dann auch so lange gedauert?

Wer in Deutschland von einem geplanten Mord, Totschlag oder Raub erfährt und eine Anzeige leichtfertig unterlässt, kann bestraft werden. Wer in einer konkreten Notsituation Hilfe unterlässt, muss mit bis zu einem Jahr Gefängnis oder einer Geldstrafe rechnen. So steht es zumindest im Strafgesetzbuch. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern lassen sich beide Paragrafen nur in Ausnahmefällen anwenden. Kritiker sprechen von einer Art strukturellem Täterschutz für Pädokriminelle.

Einer diese Kritiker ist Kriminalist Manfred Paulus, der als Hauptkommissar in Ulm jahrzehntelang mit Kindesmissbrauch zu tun hatte und bis heute Lehrveranstaltungen für Polizisten hält. Er spricht bei einer Konferenz in München von einer "Kultur des Wegschauens und Schweigens". Laut Kriminalstatistik wurden der Polizei 2018 in Deutschland 12 321 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern bekannt. Paulus geht von einer Dunkelziffer von 1 zu 30 aus: "Das heißt im Umkehrschluss: 29 von 30 Tätern bleiben straffrei - und das nehmen wir einfach hin."

Die wenigsten Kinder zeigen Gewalt gegen sich selbst an

Glaubt man Studien aus den USA, zeigt weniger als ein Prozent der missbrauchten Kinder Gewalt gegen sich selbst an. Ähnliches gilt wohl für Deutschland, das hat eine Befragung von Betroffenen durch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ergeben. In 661 Fällen, und damit etwa 81 Prozent der ausgewerteten Gespräche und Berichte, war eine Anzeige kein Thema.

In zahlreichen Bundesstaaten der USA, in Kanada, aber auch in Europa, gibt es bereits eine Anzeigepflicht bei sexuellem Missbrauch. In Deutschland versuchte die damalige Justizministerin Brigitte Zypries 2003 diese im Strafgesetzbuch zu verankern und scheiterte - auch am Widerstand der Kinderschutzzentren. Zuletzt hat sich der runde Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch" der Bundesregierung dagegen ausgesprochen. "Damit soll weiterhin ermöglicht werden, dass Betroffene insbesondere in Beratungsstellen vertraulich Hilfe erhalten", hieß es zur Begründung.

Denn obwohl Kinder auch heute noch vor dem fremden Mann gewarnt werden, tritt sexueller Missbrauch durch Fremde vergleichsweise selten auf. Die meisten Täter agieren im Verborgenen der eigenen Wohnung. Sie sind Brüder, Väter, Bekannte und manchmal auch die eigene Mutter. Menschen also, die dem Opfer sehr nahestehen.

Maria Andrea Winter, 61, wurde als Kind regelmäßig von ihrem Vater vergewaltigt, ihre Mutter sah weg. Als sie 15 war, ging sie zur Polizei. Doch ihr Mut währte nur kurz. "Meine Mutter hat manipulativ auf mich eingewirkt. Sie hat gesagt, ich soll an sie und meine Geschwister denken. Sie hat mir ein so schlechtes Gewissen gemacht, dass ich Angst hatte, schuld zu sein, wenn es ihnen schlecht geht", erzählt sie am Telefon.

Sie zog die Anzeige zurück - und landete wegen Falschaussage vor Gericht. Heute sagt sie: "Dringender als eine Anzeigepflicht brauchen wir eine sensible Begleitung und Unterstützung der Kinder."

Angst vor Stigmatisierung und davor, dass einem niemand glaubt

Die Angst, Beziehungen zu gefährden ist einer der Gründe, warum Opfer sich oft schwertun, gegen den Täter auszusagen. Hinzu kommt die fehlende Kraft, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Die Angst vor Stigmatisierung, davor, dass einem niemand glaubt. Zudem gelten Ermittlungsverfahren als extrem belastend. Auch Beratungsstellen empfehlen manchmal, die Taten nicht anzuzeigen.

Ein Jugendamt auf dem bayerischen Land. Neun von zehn Verdachtsfällen werden hier nicht gemeldet, berichtet eine Mitarbeiterin. Nicht weil man den Kindern nicht glaube oder sich für sie nicht interessiere, sondern weil Fälle oft alles andere als eindeutig seien. Weil Zeugen und Beweise fehlten, weil Kinder zu klein seien, um aussagen zu können, was wirklich passiert ist.

Ein Beispiel: Ein Dreijähriger fällt in der Kita auf, weil er erzählt, Papa habe ihm am Po wehgetan, er spricht von einer weißen Flüssigkeit. Gleichzeitig kann er nicht sagen, was er am Tag vorher zu Mittag gegessen hat. Das Jugendamt setzt den Umgang mit dem getrenntlebenden Vater aus, der wehrt sich - es sei ja nichts passiert. Auch das Kind will plötzlich nichts mehr sagen.

"Eine Anzeige hat dann wenig Erfolgschancen", erzählt die Frau vom Jugendamt. Etwa die Hälfte der Strafverfahren in Deutschland wird eingestellt - auch in Fällen von mutmaßlichem Kindesmissbrauch. Mitunter werde das Kind sogar noch zusätzlich traumatisiert, erzählt die Frau vom Jugendamt. Die wenig spezialisierte Polizei auf dem Land gehe zwischen Personalnot und Schichtdienst nicht gerade sensibel mit den Opfern um.

Es gibt da auch eine andere Meinung. "Auch wenn keine Verurteilung möglich ist, hat eine Anzeige einen Wert", sagt Stephanie Antor, Richterin am Oberlandesgericht München und ehemalige Referentin bei der Unabhängigen Kommission. Diese könne die Strafverfolgung bei weiteren Anzeigen gegen denselben Täter erleichtern, eine aussagekräftigere Kriminalstatistik dazu beitragen, dass ein Bewusstsein für die tatsächliche Zahl der Missbrauchstaten entstehe. Und auch Betroffenen helfe es, Unrecht zu benennen. Antor sagt: "Sie treten so aus ihrer Opferrolle heraus."

Für wen würde die Anzeigepflicht gelten?

Eine Straftat muss bestraft werden, findet die Richterin. Eine Anzeigepflicht ist dennoch für sie nur "Fernziel". Viele Fragen seien noch offen: Etwa wie man eine Anzeige vermeiden kann, wenn es das Opfer ausdrücklich so wünscht und diese ihm nicht zugemutet werden kann. Weil sie schwerwiegende psychische Folgen hat.

Oder für wen die Anzeigepflicht eigentlich gelten soll? Für die Nachbarin und den Passanten? Oder doch nur für bestimmte Berufsgruppen. Und wenn, für welche?

Ein Blick auf die Nachbarländer zeigt, dass es hier durchaus Unterschiede gibt: In Frankreich etwa sind nur Ärzte im Staatsdienst betroffen, und das sind wenige. In Österreich alle Mediziner. Ab 2020 soll die Anzeigepflicht hier auf alle Gesundheitsberufe ausgeweitet werden - also auch auf Therapeuten. Das könnte dazu führen, so die Befürchtung von Experten, dass Opfer mit niemandem mehr über ihr Leid sprechen.

"Gut gemeinte Gesetze müssen gut gemacht sein, damit die Betroffenen nicht darunter leiden", warnt auch Richterin Antor. Zunächst müsse sich, und da ist sie sich mit Missbrauchsopfer Maria Andrea Winter einig, der Umgang mit missbrauchten Kindern verbessern. Das hat auch der Fall Lügde gezeigt.

Als Andreas V. endlich festgenommen wurde, mussten die Kinder immer und immer wieder von ihrem Leid auf dem Campingplatz erzählen. Befragungen entsprachen nicht den kriminalfachlichen Standards, Videoaufzeichnungen wurden unterlassen - nicht das einzige Versäumnis der Beamten, wie sich bald herausstellen sollte: Denn nicht nur die Hinweise auf die pädophilen Neigungen von Andreas V. beim Jugendamt liefen ins Leere, auch ein Vermerk bei der Polizei soll verschwunden sein - angeblich war eine simple Computerpanne schuld.

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