Sexuelle Übergriffe in Ägypten:"Gerade verschleierte Frauen werden als Opfer gesehen"

Sexuelle Übergriffe sind in vielen Ländern an der Tagesordnung, besonders in Ägypten. Ein Gespräch über adäquate Reaktionen mit dem Kairoer Sicherheitsberater Michael Wurche.

Interview von Lars Langenau

Michael Wurche, 73, ist pensionierter Lufthansa-Manager. Vor 32 Jahren wurde er in Bolivien entführt und freigekauft. Seither beschäftigt er sich mit Sicherheitsfragen. Er lebt seit mehr als 15 Jahren in Ägypten und bietet für eine deutsche Sicherheitsfirma Seminare an.

SZ: Sie leben in Kairo, was haben Sie gedacht, als Sie von den Vorfällen der Silvesternacht in Köln erfahren haben?

Michael Wurche: Jetzt geht das auch noch in Deutschland los. Wie kann man das eindämmen? Vor allem aber auch: Wie kann man die nun sicher bald um sich greifende Ablehnung der vielen schutzbedürftigen Flüchtlinge verhindern, vor allem der Syrer?

Wie kommen Sie dazu, sich als Deutscher mit ägyptischen Problemen zu befassen?

Vor allem weil meine Frau und meine Stieftochter Ägypterinnen sind. Auch sie sind durch Taharrosh gefährdet. Auf Arabisch bedeutet das sexuelle Belästigung. Ich kritisiere Ägypten und die Ägypter keineswegs pauschal. Ich habe viele Freunde unter den zahlreichen außergewöhnlich gebildeten und generell sehr herzlichen Ägyptern. Nach meinen Dienstjahren in Peru, Mexiko, Bulgarien, Bolivien, Spanien und Nigeria weiß ich, dass es überall Gangster und anständige Menschen gibt. Aber es gibt nicht überall sexuelle Belästiger.

Tritt dieses Phänomen verstärkt in Nordafrika auf?

Nicht nur, aber in Nordafrika nahm es seit dem Arabischen Frühling zu. Die Revolution nahm den Menschen die Angst vor der staatlichen Gewalt, und die Frustration über Armut und Hilflosigkeit wuchs. Am schlimmsten ist es in Indien und in Lateinamerika. Das hat also nichts mit dem Islam zu tun. Das Problem ist nicht die Religion, sondern die untergeordnete Rolle der Frau in der Gesellschaft. Taharrosh ist vor allem ein Machtspiel.

Sie geben Seminare zum Thema. Was wollen Sie damit erreichen?

Ich will Aufmerksamkeit auf dieses gesellschaftliche Problem lenken und Frauen Möglichkeiten aufzeigen, Taharrosh auszuweichen, zu vermeiden, aber sich auch zu wehren. Dazu gehören auch einfache, effektive Tricks zur Selbstverteidigung. Die Betroffenen müssen entscheiden lernen, wann sie kämpfen sollen oder fliehen. Sie sollen sich sicher genug fühlen können, sich auf Kairos Straßen aufmerksam aber ohne Angst frei zu bewegen.

Es nehmen auch Männer teil?

Sie sollen Beschützer für die Frauen, Töchter und Mütter anderer Männer sein und immer mehr Geschlechtsgenossen überzeugen, das auch zu werden. Bisher helfen viel zu wenige Männer den belästigten Frauen, es wird einfach weggeschaut.

Lebenslang für Vergewaltigung

Wie schlimm ist es denn wirklich in Ägypten?

Es wird seit einem Jahr besser, denn 2014 wurde ein Gesetz gegen sexuelle Belästigung eingeführt, das es in Deutschland auch erst seit kurzem gibt. In Ägypten wurden drastische Strafen verhängt, bis hin zu lebenslang für Vergewaltigung. Neu eingeführte weibliche Polizei schreckt Belästiger ab und zivile Bürgergruppen wie Harassmap treiben intensive Aufklärung der Bevölkerung sowie Beratung von Frauen.

Warum hat sich die Situation überhaupt verschärft?

Ägypten ist deutlich konservativer geworden. In den 1960er Jahren waren Miniröcke im kosmopolitischen Kairo die übliche Bekleidung für viele Frauen, ebenso Bikinis als Badekleidung am Strand von Alexandria. Damals wären Belästiger auf den Straßen auch noch von Anwohnern, Geschäftsbesitzern und Passanten verprügelt worden. Belästigern schor die Polizei die Hälfte des Kopfes. Auf dem Land war man bei der Bekleidung rückständiger, aber die Verschleierung und Vollverschleierung setzten aus mehreren Gründen im ganzen Land erst in den 70ern ein. Zum einen brachten ägyptische Gastarbeiter aus dem wahhabitischen Saudi-Arabien rückwärtsgewandte Sitten mit, dann verstärkte der seit den Zeiten von Anwar as-Sadat wachsende Einfluss der Muslimbrüder diesen Trend. Sadat wollte weg von Nassers Sozialismus und setzte auf die Religion, was ihn letzten Endes das Leben kostete. Heute tragen sehr viel mehr Frauen Kopftuch und Ganzkörperbedeckung als noch vor 50 Jahren. Das verhinderte aber eben nicht die Verbreitung sexueller Belästigung.

Nennen Sie doch mal ein Beispiel dafür, was Ägypterinnen erleben müssen.

Frauen, die durch die Stadt gehen oder über eine der Nilbrücken laufen, werden durch ständige aggressive Bemerkungen belästigt und mehrfach berührt bis angefasst, das habe ich selbst gesehen und zudem von meinen ägyptischen Freunden bestätigt bekommen.

Warum nimmt sexuelle Belästigung in jüngster Zeit derart zu?

Bei den Übergriffen geht es oft nicht wirklich um Sex. Die britisch-ägyptische Soziologin Shereen El Feki schreibt, dass die patriarchalische Haltung vieler Männer vor allem in der politischen und wirtschaftlichen Wirklichkeit am Nil fest verankert sei. Das gesellschaftliche Rollenbild fordere, dass Männer die Chefs sein müssen. Es geht allein um ein Sich-groß-Machen, ein Machtspiel.

Bietet denn der Schleier den Frauen gar keinen Schutz?

In meinen Kairoer Seminaren gegen sexuelle Belästigung höre ich oft von den Teilnehmerinnen, dass gerade verschleierte Frauen als schwache, leichte Opfer gesehen werden. Einem UN-Bericht von 2013 über Geschlechtergleichheit und Frauenrechte zufolge hat die überwältigende Mehrheit aller ägyptischen Frauen, 99,3 Prozent, schon irgendeine Form von sexueller Belästigung erfahren. 70 Prozent der belästigten Frauen waren verschleiert und in keiner Weise aufreizend gekleidet. Das beweist ganz klar: In Ägypten wird sexuelle Belästigung überhaupt nicht vom angeblich aufreizenden Erscheinungsbild und der Kleidung einer Frau beeinflusst. Gerade die verschleierten Frauen werden als schwach und als leichte Beute betrachtet.

Wie Frauen sich wehren können

Was können Frauen in Gefahr tun?

Sie müssen Belästigung sofort und entschlossen stoppen, sonst ermutigen sie die Belästiger, fortzufahren. 68 Prozent der Belästigungen hören dann laut Studien auf.

Was tun bei Anfassen und Fummeln?

Auf öffentlichen Straßen und Plätzen laut 'Stop!' rufen, 'No!' oder 'Haram!', das heißt Sünde. Damit erregen Sie die Aufmerksamkeit von Passanten. Bitten Sie die um Hilfe gegen aggressive Belästiger.

Weitere Tipps?

Lärm ist immer ein wirksames Verteidigungsmittel, es sei denn, jemand bedroht sie mit einer Waffe. Bei heftiger Gegenwehr wie Schreien hören sogar 84 Prozent aller Belästiger sofort auf.

Wie sieht es mit Waffen aus?

Ich bin strikt gegen Waffengebrauch, denn der lässt jeden Konflikt auf die Ebene Tod oder Leben eskalieren. Pfefferspray und Elektroschocker können eine Alternative sein. Aber in Ägypten und vielen anderen Ländern sind sie generell verboten - also Vorsicht beim Import. Seit vielen Jahren benutzen Frauen in Ägypten eine sehr einfache, billige und doch effektive Selbstverteidigungswaffe: Eine im Kragen mitgeführte Nadel. In einem Bus oder Taxi kann es helfen, zuzustechen. Die Überraschung sollte man nutzen, um auszusteigen, um Hilfe zu rufen und wegzulaufen.

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