Sexuelle Belästigung im britischen Unterhaus:Der Palast von Sexminster

Erst betrinken sie sich in der Parlamentsbar, dann werden sie zudringlich: Ein Drittel der Mitarbeiter im britischen Unterhaus ist bereits mindestens einmal von Abgeordneten sexuell belästigt worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine TV-Dokumentation, die in Großbritannien für Aufregung sorgt. Die Regierung ist bestürzt.

Von Christian Zaschke, London

Das britische Unterhaus wird weltweit für seine Debattenkultur bewundert. Regierung und Opposition sitzen genau zwei Schwertlängen voneinander entfernt, und auch wenn es bisweilen etwas arg laut zugeht, sind die Sitzungen stets von Anstand und Respekt geprägt. Dieses Bild steht in starkem Widerspruch zu den Anschuldigungen, die Dutzende Mitarbeiter des Hauses nun erhoben haben. Demzufolge ist der Palast von Westminster, in dem die beiden Kammern des Parlaments untergebracht sind, nicht nur ein Hort der Demokratie, sondern auch eine Art Sündenpfuhl, in dem sich nach Sonnenuntergang Abgeordnete in großer Zahl betrinken und Angestellte sexuell belästigen.

Der Fernsehsender Channel 4 hat 70 Parlamentsmitarbeiter aus allen Parteien befragen lassen, die als Berater, Assistenten und Recherche-Helfer arbeiten. Ein Drittel gab an, bereits mindestens einmal sexuell belästigt worden zu sein, ein weiteres Viertel ist laut der Befragung Zeuge von sexuellen Belästigungen geworden. Dabei sind offenbar Männer häufiger Ziel unerwünschter Avancen als Frauen. Channel 4 sendete die Reportage unter dem Titel "Der Palast von Sexminster".

Nur wenige Stunden vor Veröffentlichung der Vorwürfe war am Donnerstag Nigel Evans, ehemals stellvertretender Sprecher des Unterhauses, vom Vorwurf der Vergewaltigung in einem Fall und der sexuellen Belästigung in acht weiteren Fällen freigesprochen worden. Unter anderem hatte er einen Mitarbeiter des Parlaments betatscht. Das Gericht akzeptierte Evans' Verteidigung, es habe sich um das "zudringliche, unangemessene Verhalten eines betrunkenen Mannes" gehandelt, nicht jedoch um eine Straftat; im vermeintlichen Vergewaltigungsfall ging das Gericht davon aus, dass der damals 55 Jahre alte Evans einvernehmlichen Sex mit einem 33 Jahre jüngeren Mann hatte.

Erst in der Parlamentsbar betrinken, dann zudringlich werden

Trotz des Freispruchs setzte der Fall eine Diskussion über die Sitten der Parlamentarier in Gang. Mitarbeiter berichten, dass eine Gruppe konservativer Abgeordneter sich regelmäßig in der Parlamentsbar betrinke und dann zudringlich werde. Ein Mitarbeiter erzählt, auf einer Veranstaltung für junge politische Aktivisten sei er nachts um ein Uhr von einem Abgeordneten aufgefordert worden, diesen auf die Herrentoilette zu begleiten. Ein anderer gibt an, sein Chef habe ihn und sämtliche Kollegen in eine Schwulenbar eingeladen und ihn dort bedrängt.

Wie ernst die Vorwürfe in Westminster genommen werden, zeigt sich daran, dass Unterhaus-Sprecher John Bercow noch am Donnerstagabend verkündete, man werde umgehend eine telefonische Hotline einrichten. Mitarbeiter könnten dort sexuelle Übergriffe melden und würden Hilfe bekommen.

Ebenfalls noch am Donnerstagabend sagte ein Sprecher der Konservativen, sämtliche Abgeordnete der Partei müssten künftig einen Verhaltenskodex unterschreiben, der ihre Rechte und Pflichten als Arbeitgeber regele. Auch wird darüber nachgedacht, den Beratern, Assistenten und Recherche-Helfern künftig den Aufenthalt im Palast von Westminster nur noch bis neun Uhr abends zu gestatten. Wenn es dann in späteren Stunden in der Bar des ehrwürdigen Hauses zu hoch herginge, wären die Abgeordneten immerhin unter sich.

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