Sexualdelikte:Wie die Kölner Silvesternacht Deutschland verändert hat

Situation Silvester am Kölner Hbf

Zahlreiche Menschen feierten am 31. Dezember 2015 auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs in Köln Silvester.

(Foto: Markus Boehm/dpa)

Frauen werden eingekreist, ihre Strumpfhosen zerrissen: Der Jahreswechsel in Köln hat zu viele Frauen zu Opfern gemacht, zu viele Migranten unter Generalverdacht gestellt - und wird zum Wendepunkt in der Flüchtlingsfrage.

Von Friederike Zoe Grasshoff

Diese eine Nacht, sie will nicht enden. Sie beginnt, bevor 2016 überhaupt angebrochen ist und dauert an, bis heute. Es ist die Nacht, in der sich Minuten für Hunderte Frauen wie Stunden anfühlen. Es ist die Nacht, die nicht nur diese Frauen, sondern das ganze Land verändert.

Der Kölner Hauptbahnhof am 31. Dezember 2015. Der Dom steht da, wie er immer da steht; groß und grau und prächtig. Wie immer, wenn auf den Rheinbrücken schon vor Mitternacht das Böllern, das Neujahrsgeschrei und der Kollektiv-Suff beginnen, sammeln sich Menschen auf der Domplatte; mal richtig durchdrehen, es ist ja Silvester, die Nacht der Nächte. Doch in diesem Jahr ist etwas anders, ganz anders. Was zunächst aussieht wie eine schlechte Party mit viel zu vielen Menschen, endet in der Katastrophe von Köln.

Alles beginnt bereits ein paar Stunden, bevor der Himmel in allen Farben leuchtet, bevor Menschen mit Sekt anstoßen und "Frohes Neues" rufen. Die Frauen, die am Hauptbahnhof aus- oder umsteigen, sie wollen feiern. Doch dann sind da diese fremden Hände: am Busen, am Po, zwischen den Beinen. Männer stehen in der Halle, auf dem Bahnhofsvorplatz, sie schreien und schießen Raketen in die Menge. Die Zeit wird einen dieser Männer später wie folgt zitieren: "Es gab Feuerwerk und wir wollten Fickificki machen, das ist alles." Fickificki also. Mit Frauen, die nicht Fickificki machen wollen.

Frauen werden grün und blau gegrapscht

In der Masse sind die Männer als Individuen nicht zu erkennen. Frauen werden eingekreist, ihre Strumpfhosen zerrissen. Sie werden grün und blau gegrapscht, einer wird das Gesicht abgeleckt, sie werden "Schlampe" und "Hure" genannt. Man zieht ihnen die Handys aus der Tasche, steckt ihnen Finger in die Vagina. Viele rufen nach Hilfe und werden nicht gehört. Das unübersichtliche Areal rund um den Dom wird binnen weniger Stunden zu einem unüberschaubaren Tatort. Zu einem rechtsfreien Raum, in dem Frauen Freiwild sind. Opfer. Nicht irgendwo in Indien. Sondern im ach so lebenslustigen Köln. Direkt vor dem Dom, der meistbesuchten Sehenswürdigkeit der Stadt am Rhein. Mitten in Deutschland.

Es wird eine Weile dauern, bis an die Öffentlichkeit dringt, was in dieser Nacht eigentlich geschehen ist. Am 1. Januar verschickt die Kölner Polizei eine Pressemitteilung "Ausgelassene Stimmung - Feiern weitgehend friedlich".

Das ganze Ausmaß deutet sich erst am 4. Januar an, als das Land allmählich aus dem Feiertags-Kater erwacht. Der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers spricht nun von "Straftaten völlig neuer Dimension". Und von Tätern, die "dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum" stammen. Wenige Tage später wird Albers in den einstweiligen Ruhestand versetzt; ihm wird vorgeworfen, die Öffentlichkeit nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt zu haben und Informationen über die Herkunft der Verdächtigen zurückgehalten zu haben.

In der Silvesternacht werden mehr als 1200 Frauen Opfer von Sexualdelikten

Allmählich dringt durch, dass es in jener Nacht nicht nur in Köln, sondern unter anderem auch in Hamburg und Stuttgart zu ähnlichen Vorfällen gekommen ist. Allmählich sickert durch, dass die Kölner Polizei offenbar überfordert war. Nach und nach wird klar, dass von "ausgelassener Stimmung" keine Rede sein kann. Der kollektive Schock, er kommt mit gut einer Woche Verspätung.

Es vergehen Tage, zu viele Tage, bis Polizei und Politik die traurige Wahrheit aussprechen, auf die manch einer gewartet und die manch einer zunächst nicht wahrhaben will: Die Männer, die neben Sexual- auch massenhaft Eigentumsdelikte verübten, sind größtenteils ausländischer Herkunft: Marokkaner und Algerier vor allem, dazu Iraker, Syrer. Asylsuchende, Asylbewerber, illegal Eingereiste. Auch Deutsche sind darunter.

Bundesweit werden in der Silvesternacht laut Bundeskriminalamt (BKA) mehr als 1200 Frauen Opfer von Sexualdelikten, mehr als 2000 Männer sollen daran beteiligt gewesen sein. Dem Entwurf der BKA-Abschlussbilanz zufolge hielt sich rund die Hälfte der Tatverdächtigen erst seit weniger als einem Jahr in Deutschland auf. "Insofern gibt es schon einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Phänomens und der starken Zuwanderung gerade in 2015", so BKA-Präsident Holger Münch im Juli.

Bisher wurden nur zwei Männer wegen sexueller Nötigung verurteilt

Laut Staatsanwaltschaft Köln lagen bis Mitte November 2016 allein für diese Stadt 1206 Strafanzeigen vor, 509 davon beziehen sich auf den Vorwurf eines sexuellen Übergriffs. Die größte Tätergruppe besteht aus jungen Nordafrikanern, also nicht Flüchtlingen und Asylbewerbern aus dem vom Krieg verheerten Nahen Osten, sondern aus einer Klientel, die speziell in Köln schon lange die Polizei beschäftigt hat. Der Verdacht auf massiven Missbrauch des Asylrechts liegt nahe. In der Folge versucht die Bundesregierung, Marokko und Algerien als "sichere Herkunftsländer" einzustufen, womit Asylanträge von Bürgern dieser Staaten fast aussichtslos werden.

Nur zwei Männer wurden bisher vor dem Kölner Amtsgericht wegen sexueller Nötigung beziehungsweise Beihilfe zur sexuellen Nötigung verurteilt, zu je einer Haftstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Die Aufarbeitung ist sehr schwierig. Zum einen sei das Video-Material aus der Silvesternacht von schlechter Qualität, sagt der Kölner Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer. Zum anderen könnten die Opfer die Täter oft nicht wiedererkennen, weil sie sich damals vor allem schnell vor diesen Männern in Sicherheit bringen wollten.

Wann schreit man um Hilfe, wann erstattet man Anzeige?

So wird die Silvesternacht zu einem emblematischen Datum, zu einem Wendepunkt in der Flüchtlingsfrage: Schaffen wir das? Die Ängste überschlagen sich, "nach Köln" ist da längst eine feststehende Redewendung. Spätestens als klar wird, dass Flüchtlinge unter den Beschuldigten sind, geht es Schlag auf Schlag, alles wird infrage gestellt, ohne Differenzierung: Merkels Flüchtlingspolitik, das Sicherheitsgefühl, das Vertrauen in Staat und Polizei und Presse. Die Medien sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, zu spät und zu wenig berichtet zu haben.

Köln wird schließlich zu einem weltweiten Thema und gelangt bis in den Wahlkampf von Donald Trump. Ein Kolumnist der New York Times legt der Bundeskanzlerin den Rücktritt nahe, Frauen rüsten sich mit Pfefferspray aus, Merkel kündigt Anfang Januar an, die Regeln für Ausweisungen von Ausländern zu überprüfen, die Anmelde-Zahlen bei Selbstverteidigungskursen für Frauen steigen sprunghaft an. Alles geht jetzt sehr schnell, als wolle man etwas aufholen. Nur die Opfer dieser Nacht gehen ein wenig unter im Schock der Masse.

Und Opfer gibt es viele, nicht erst seit Silvester. Mal ist es eine Hand an der Hüfte, mal sind es ein paar Schritte zu nah hinter einem. Mal sind es niedergedrückte Arme, mal ist es ein fremder Körper über einem, mal ein Geruch, den man nie riechen wollte. 40 Prozent der Frauen in Deutschland haben einer Studie des Familienministeriums von 2004 zufolge seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides erfahren. Wann schreit man um Hilfe, wann ignoriert man den zudringlichen Idioten am Wegrand, wann erstattet man Anzeige? So groß, wie Scham und Selbstekel sich für die Opfer oft anfühlen, so hoch ist auch die Dunkelziffer. Wem auch die Schuld geben, wenn alles so schnell geht und der Schuldige nicht mehr greifbar ist? Klar, sich selbst.

Sexuelle Gewalt wurde 2015 mehr als präsent

So niederschmetternd die Taten von Köln sind, sie haben auch etwas angestoßen: Viele Betroffene geben sich nun offenbar nicht mehr selber die Schuld, sondern den Schuldigen. Zumindest bei den großen Volksfesten und Veranstaltungen zeigt sich für die Zeit nach Köln eine gestiegene Anzeigebereitschaft: Wurden während des Kölner Karnevals 2015 noch 18 Sexualdelikte zur Anzeige gebracht, waren es in diesem Jahr 66. Die Statistik des Cannstatter Wasen, des großen Stuttgarter Volksfestes, listet für 2016 insgesamt 30 Anzeigen von Sexualdelikten auf, im Vorjahr lag diese Zahl noch bei zwei. Im Zuge des Münchner Oktoberfestes wurden 34 sexuelle Übergriffe angezeigt, 13 mehr als 2015. Wird nun mehr gegrapscht oder schlichtweg mehr angezeigt? Schwer zu sagen.

2016 wird auch als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem sexuelle Gewalt medial mehr als präsent ist. So diskutiert Deutschland im Sommer nicht mehr nur über Köln, auch der Fall Gina-Lisa Lohfink schlägt Wellen. Lohfink, 30, Boulevard-Dauergast und einst "Germanys Next Topmodel"-Kandidatin, hatte Anzeige gegen zwei Männer erstattet und diese beschuldigt, sie 2012 vergewaltigt zu haben. Der Prozess am Amtsgericht Berlin- Tiergarten befeuert nicht nur die Debatte um die Änderung des Sexualstrafrechts, er spaltet auch Deutschland. Die einen stilisieren Lohfink zu einer Symbolfigur; nämlich dafür, dass Opfer sexueller Gewalt nicht genügend geschützt würden, dass ihnen nicht geglaubt werde. Für die anderen ist sie bloß ein C-Promi, eine Lügnerin, die Aufmerksamkeit sucht. Einvernehmlicher Sex oder Vergewaltigung?

"Das Unrechtsbewusstsein hat sich auf jeden Fall verändert"

Ende August wird Lohfink wegen falscher Verdächtigung zu einer Geldstrafe von 20000 Euro verurteilt - etwa sechs Wochen, nachdem der Bundestag beschlossen hatte, das Sexualstrafrecht zu verschärfen. Künftig macht sich nicht nur strafbar, wer Sex durch Gewalt oder Gewaltandrohung erzwingt. Es soll vielmehr ausreichen, wenn sich der Täter über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt. Dieses längst überfällige "Nein heißt Nein"-Prinzip, es ist auch als Reaktion auf die Silvesternacht zu verstehen und vielleicht einer der wichtigsten Schritte in jüngster Zeit hin zum besseren Schutz von Opfern sexueller Gewalt.

"Das Unrechtsbewusstsein hat sich auf jeden Fall verändert. Frauen machen eher den Mund auf und sagen: Nein, das ist strafbar, das zeige ich an", sagt Silvia Zenzen, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Verein "Frauen gegen Gewalt". Frauen hätten seit der Debatte über die Silvesternacht eher das Gefühl, dass ihnen geglaubt wird. Auch die Opferschutzorganisation Weißer Ring schreibt in einem Statement an die SZ: "Es ist in der Tat zu beobachten, dass das gesellschaftliche Problembewusstsein beim Thema Sexualdelikte gewachsen ist." Zugleich merkt Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer an: Es sei noch immer ein Problem, dass Sexualdelikte oftmals nicht angezeigt würden.

Die Ereignisse von Köln, sie werden bleiben. Denn diese Nacht hat viel zu viele Frauen zu Opfern gemacht, zu viele Flüchtlinge unter Generalverdacht gestellt, zu viele vermeintliche Sicherheiten in Unsicherheiten verkehrt. Wie werden die Betroffenen dieses Jahr Silvester feiern? Bleiben sie zu Hause, gehen sie aus, stoßen sie an, auf ein neues Jahr, das vielleicht froher wird als das alte? Hauptsache, sie feiern wieder, irgendwann. Und zwar sich selbst und ihren Mut.

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