Selbstmord-Serie in Wales:Die verlorenen Kinder von Bridgend

Im walisischen Bridgend haben sich in 13 Monaten 17 Jugendliche das Leben genommen. Zwischen Trauer und Angst werden nun auch Vorwürfe laut.

Wolfgang Koydl, Cefn Cribwr

Einen schönen Blick hat man von hier oben, weit hinaus über die sanften Hügel und weichen Täler im Süden von Wales. Ein paar Farmen sind zu erkennen, dazwischen wie mit einem weißen Pinsel hingesprenkelt ein paar Schafe.

Bridgend, dpa

In der südwalisischen Kleinstadt Bridgend nehmen sich erschreckend viele Jugendliche das Leben.

(Foto: Foto: dpa)

Wenn nicht hässliche Hochspannungsmasten die Sicht verschandeln würden, man könnte glauben, dass die Zeit hier vor hundert Jahren angehalten wurde. Ja, schön liegt das Dörfchen Cefn Cribwr auf einem Hügelkamm. Wie die Zähne eines Kammes sind auch die bescheidenen, grauen Reihenhäuser entlang der Hauptstraße aufgestellt.

Nicht mehr als 80, vielleicht 100 Meter sind es von der Hügelkuppe hinunter zu dem kleinen Wäldchen, vorbei an einem armseligen Kinderspielplatz, wo der Wind die rostigen Schaukeln schwingen lässt und durch die Sprossen eines Klettergerüsts pfeift.

Auch Jenna Parry ist diesen Weg gegangen, aber wahrscheinlich hatte sie keinen Blick übrig für ihre Umgebung. Es war ohnehin stockdunkle Nacht, als sie sich aus ihrem Elternhaus schlich, und außerdem waren ihr Herz und ihre Seele wohl so voll von Schwermut und Schmerz, wie es nur das Herz und die Seele einer 16-Jährigen sein können, die unglücklich ist und die sich einsam fühlt, ganz furchtbar einsam und allein.

Narzissen im kahlen Geäst

In der Hand muss Jenna den Strick getragen haben, und als sie bei dem kleinen Bäumchen am Rand des Haines ankam, vollendete sie ihren Plan. Erst am nächsten Morgen entdeckte Mike Bennett die Leiche, als er seinen Bordercollie Max spazieren führte. Die Eltern hatten ihre Tochter noch gar nicht vermisst; sie wähnten sie schlafend im Bett.

Heute Vormittag ist Sharon Morgan mit ihrem Retriever vorbeigekommen. Vor dem Baum, an dem das junge Leben ein Ende fand, hält sie inne. Mehr als eine Woche ist seit dem Tod Jennas vergangen, doch die Blumensträuße, die hier liegen, sind neu, genauso frisch wie die gelben Narzissen, die jemand in das kahle Geäst gesteckt hat.

Die Blumen sind in Plastik eingeschlagen, und Plastikhüllen schützen auch die hilflosen Gedichte und Wünsche, die Jennas Freunde hier abgelegt haben. Leise bimmelt ein lilafarbenes Windspiel mit einem kleinen Schmetterling als Schmuck. "Our little butterfly" - kleiner Schmetterling - , das war der Kosename der Eltern für ihre Jenna.

"Natürlich war es ein Schock, als wir von ihrem Tod hörten", sagt Sharon Morgan. "Aber es war kein frischer Schock, wenn Sie verstehen, was ich meine, mehr so, als ob man ein Messer in eine Wunde stoßen würde, die schon offen ist. Sie wissen ja, Jenna war nicht die Erste hier in der Gegend."

Nein, Jenna war nicht der erste, sondern nur der vorerst letzte junge Mensch, der sich im Kreis Bridgend in den letzten 13 Monaten getötet hat. Insgesamt waren es 17 Jungen und Mädchen, die aus freien Stücken in den Tod gingen: der Jüngste, Nathaniel Pritchard, war erst 15, als er sich in seinem Zimmer in dem Weiler Cefn Glas an einem Dachsparren erhängte; Gareth Morgan war mit 27 der Älteste, und er ließ einen kleinen Sohn zurück.

Zorn und Ratlosigkeit

Die 17-jährige Natasha Randall war im Januar das erste Mädchen, doch mittlerweile hat der Freitod von drei weiteren jungen Frauen alle Hoffnungen zerstört, dass die furchtbare Serie sich auf Männer beschränken würde.

Diese anscheinend nicht enden wollende Reihe von Selbstmorden hat Bestürzung, Trauer, ohnmächtigen Zorn, vor allem aber Ratlosigkeit ausgelöst. Warum ausgerechnet hier? Warum so viele? Bridgend, auf halbem Wege zwischen der walisischen Hauptstadt Cardiff und dem Hafen Swansea gelegen, war schon lange bekannt für eine überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate.

Und im Fürstentum Wales legen im Schnitt ohnehin mehr Menschen Hand an sich als in anderen Teilen des Vereinigten Königreiches. Aber diese Häufung in dem lediglich 130.000 Einwohner zählenden Bezirk hat nicht nur die Statistiken, sondern auch die Vorstellungskraft gesprengt.

Ist das Leben hier wirklich so deprimierend schlecht? Haben Jugendliche hier noch weniger Zukunftsperspektiven als anderswo? Oder fanden sie es einfach auf eine bedrückend grauenvolle Weise cool, einander in den Tod zu folgen?

Die verlorenen Kinder von Bridgend

Gereizt, aggressiv und zugleich misstrauisch-defensiv haben die Menschen in Bridgend auf Unterstellungen in den Medien reagiert, wonach es die Besonderheiten ihres Ortes sein könnten, welche die Jugendlichen in den Selbstmord getrieben haben. Aber eine Antwort haben auch sie nicht gefunden.

Philip Walters muss als sogenannter Coroner für Süd-Wales von Amts wegen alle ungeklärten und nicht natürlichen Todesfälle in seinem Distrikt gerichtlich untersuchen. Ebenfalls von Amts wegen muss er daher auch festzustellen versuchen, ob es irgendwelche Verbindungen zwischen den toten Teens von Bridgend gegeben hat. Fündig wurde er freilich nicht.

"Ich habe sehr genau nach gemeinsamen Faktoren gesucht", erklärte Philip Walters nach Jennas Tod. "Aber die einzige Gemeinsamkeit, die ich festgestellt habe, war die Todesursache" - Tod durch Erhängen. Dies ist auch die offizielle Linie der Polizei: "Es gibt keinerlei Verbindung zwischen den einzelnen Fällen", betonte der Polizeichef Dave Morris mehrmals im Laufe der Ermittlungen. "Vor allem gab es nie eine Art von Selbstmordpakt."

Ein Computerding

Die Menschen in Bridgend freilich vermögen dieser Argumentation nicht zu folgen."Wie kann es keine Verbindung geben", erregt sich Virginia Allen und legt jetzt entschieden das Kreuzworträtsel zur Seite. Der dänische Nobelpreisträger mit vier Buchstaben muss warten.

Sie betreibt "Ginny's Cafe" in einer winkeligen Einkaufspassage im Zentrum der Kreisstadt, und das Thema Selbstmord beherrscht seit Monaten die Diskussionen an dem halben Dutzend wachstuchbespannter, wackeliger Tische. "Die haben sich doch alle irgendwie gekannt", pflichtet der Rentner David Jones quer durch den Raum hinweg bei.

"Es war ein Computerding", ruft er hinterher. "Die reden doch alle am Computer miteinander." "Mit ihren Computern und Filmen und Spielen", gibt sein Freund James zu bedenken, "leben die doch alle in einer virtuellen Welt. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass der richtige Tod endgültig ist und kein Spiel, das man wiederholen kann."

Tatsächlich gab es Querverbindungen zwischen mehreren der toten Jugendlichen: Sie gingen auf dieselbe Schule, oder sie waren befreundet, und zwei waren sogar Cousins.

Oder Thomas Davies. Er kaufte sich eigens einen Anzug für die Beerdigung seines Freundes David Dilling, der sich in seinem Heimatort Pyle, einem eintönig-tristen Reihendorf, erhängt hatte. Aber zwei Tage vor der Beisetzung tötete er sich selbst.

Alkohol, Drogen, Internet?

Die meisten hatten auch eine eigene Website und hielten Kontakt mit Freunden über Bebo, MySpace oder Facebook. Doch andererseits diskutierte keiner der 17 seine Selbstmordpläne online; manche, wie Jenna Parry, machten sich noch nicht einmal besonders viel aus Chatrooms, und zwischen einigen der Selbstmörder gab es überhaupt keine Kontakte. Stadt und Kreis Bridgend sind ohnehin zu groß, als dass man sich automatisch über den Weg laufen würde.

Sharon Morgan hatte denn auch andere Gründe vermutet, als sie an Jennas Todesort vorbeikam. "Der Alkohol und die Drogen, die haben sehr viel damit zu tun", sagte sie. "In diesem Alter kapseln sich doch junge Leute oft ab, verbergen ihre Gefühle; und weil sie obendrein stark erscheinen wollen, schütten sie so viel Alkohol in sich hinein, wie es nur irgendwie geht."

Auch in "Ginny's Cafe" schiebt man die Schuld auf die Vielzahl an Pubs und Clubs im Ort und im Landkreis. "Es gibt ja sonst nicht viel zu tun für die Jugend hier", seufzt Ginny. "Entweder schließen sie sich in ihren Zimmern ein oder sie betrinken sich."

Polizeistatistiken führen Bridgend in der Tat als einen "Hotspot" für "binge-drinking", das sogenannte Komasaufen, das sich rapide zu einem der am schwersten wiegenden gesellschaftlichen Probleme ganz Großbritanniens entwickelt.

Die Zahl der Clubs, Bars, Schnellrestaurants, Takeaways und Nachtclubs in der Kleinstadt habe einen "Sättigungsgrad" erreicht, schreibt die Polizei. Sie hat seit langem "unverhältnismäßig viel Verbrechen, öffentliche Unordnung, sozialfeindliches Verhalten und öffentliches Ärgernis" in der Kleinstadt registriert.

Die Arbeitslosen blieben

"Bridgend ist ein netter Ort, wo man gut leben und gut seine Kinder großziehen kann" - wie einstudiert hatten viele Einheimische nach jedem neuen Todesfall in Interviews die Lebensqualität ihrer Heimat beteuert. Doch schon ein kurzer Rundgang durch die 40.000 Einwohner zählende Stadt straft diese Selbsteinschätzung Lügen.

Bridgend ist einer jener Orte, denen das Schicksal und die Geschichte böse mitgespielt haben: Sie haben ihm die alte Identität geraubt, ohne ihm dauerhaft ein neues Selbstwertgefühl zu verleihen. Jahrhundertelang war Bridgend eine ländlich geprägte Marktgemeinde, wo die Bauern der Umgebung ihre Produkte verkauften.

Doch als in den Tälern im Norden Kohle entdeckt wurde, veränderte sich der Charakter: Bridgend wurde industriell, und mit der Eisenbahn, welche die geförderte Kohle abtransportierte, kam sogar ein gewisser Wohlstand in den Ort. Aber als in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Zechen geschlossen wurden, verschwand auch dieser Wohlstand.

Nur die Arbeitslosen blieben: In Bridgend sind mehr als doppelt so viele Männer erwerbslos wie im nationalen Durchschnitt. Heute ist der Autobauer Ford der einzige Arbeitgeber von Substanz.

Andere internationale Firmen wie der Elektronikkonzern Sony zogen nach wenigen Jahren wieder ab. An der Jobbörse in der Fußgängerzone werden vorwiegend Gabelstaplerfahrer und Telefonisten gesucht - für sechs bis sieben Pfund die Stunde.

Viel zu viele Vorbilder

"Aber diese Umstände erklären nicht die Selbstmorde", findet Pastor Mike Holmes von der Bethlehem Church. "Solche Probleme haben auch andere Städte - nicht nur in Wales, sondern in ganz Großbritannien und auch in Europa, ohne dass sich gleich so viele junge Leute töten." Er sieht denn auch eine Verkettung mehrerer Umstände: "Liebeskummer, vielleicht eine Schwangerschaft, Streit mit einem Freund, Probleme im Elternhaus."

Damit beginnt jedoch, so Holmes, oft eine Kettenreaktion. "Wenn jemand sowieso depressiv ist, greift er zu Alkohol, zu Drogen, zu Pillen, und das verstärkt die Depression und den Selbstmordimpuls. Im Normalfall geht dieser Impuls dann noch vorbei.

Aber wenn man so viele - wie soll ich sagen - Vorbilder hat wie in Bridgend, vielleicht wird es dann leichter, selber diesen Weg zu gehen." Auf höfliche Weise wiederholt der Geistliche damit einen Vorwurf, den Sharon und Vincent Pritchard, die Eltern Nathaniels, den Medien machten. Ihre Berichte seien es, sagten sie in einer emotionalen Pressekonferenz, die Jugendliche erst zum letzten Schritt trieben.

Wie zur Bestätigung hielt Polizeichef Morris eine Schlagzeile hoch: "Die Selbstmörderstadt Bridgend versteckt ein grausiges Geheimnis." "Welches Geheimnis?", fragte er. Doch der Appell des Elternpaares scheint gefruchtet zu haben: Sogar jene Zeitungen, die an niedere Instinkte appellieren, schraubten sensationsheischende Berichte zurück.

Viel wichtiger freilich ist der Umstand, dass bislang kein anderer Jugendlicher Jenna in den Tod gefolgt ist. Gleichwohl wagt noch niemand zu hoffen, dass der Todesfluch über der Gemeinde wirklich durchbrochen wurde. Bridgend hält weiter den Atem an.

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