Erdbeben in der Türkei:"Es sind so viele tot, da ist so viel Zerstörung"

Die Türkei ist vom stärksten Erdbeben seit mehr als zehn Jahren heimgesucht worden. Die Katastrophe hat bereits mehr als 200 Menschen das Leben gekostet - türkische Erdbebenforscher fürchten bis zu 1000 Todesopfer. Retter und Ärzte eilen ins Krisengebiet, doch noch suchen Helfer in den Trümmern mit bloßen Händen nach Verschütteten.

Kai Strittmatter, Istanbul

Die Türkei ist am Sonntagnachmittag vom stärksten Erdbeben seit mehr als zehn Jahren heimgesucht worden, türkische Erdbebenforscher fürchten bis zu 1000 Todesopfer. Das Beben, das sich um 13.41 Uhr Ortszeit in der Provinz Van im Südosten des Landes ereignete, hatte eine Stärke von 7,2 auf der Richterskala.

Ein türkischer Regierungsvertreter sagte am späten Abend dem Fernsehsender NTV, es seien schon etliche Leichen geborgen worden. Nach neuesten Zahlen vom Montagmorgen sind bis jetzt mehr als 200 Todesopfer zu beklagen, etwa 1000 in der Stadt Van und noch einmal mehr als 100 in Ercis. Das berichten türkische Medien unter Berufung auf offizielle Regierungsstellen.

Mustafa Erdik, der Direktor des renommierten Kandilli-Erdbebenforschungsinstitutes in Istanbul, sagte auf einer Pressekonferenz, sein Institut rechne mit 500 bis 1000 Toten. Ministerpräsident Tayyip Erdogan flog noch am Sonntag ins Katastrophengebiet. 500 Retter und Ärzte aus anderen Teilen der Türkei machten sich auf den Weg dorthin.

Van ist eine vorwiegend kurdisch besiedelte Provinz an der Grenze zum Iran. Innenminister Besir Atalay teilte mit, in der Provinzhauptstadt Van selbst seien zehn Gebäude eingestürzt, in der nahen Kreisstadt Ercis zwischen 25 und 30, außerdem sei ein Studentenwohnheim zerstört worden. Das türkische Fernsehen zeigte die Trümmer eines einstmals siebenstöckigen Gebäudes in Van, davor verzweifelte Überlebende und Verwandte von Vermissten, in den Trümmern suchten Helfer mit bloßen Händen nach Verschütteten.

Für mehrere Stunden war Van vom Strom- und vom Telefonnetz abgeschnitten, was den Überblick über die Zerstörungen und die Hilfsarbeiten erschwerte. "Es sind so viele tot. Da ist so viel Zerstörung", sagte der Bürgermeister der 70.000-Einwohner-Stadt Ercis, Zülfikar Arapoglu, im Sender NTV: "Wir brauchen dringend Hilfe. Wir brauchen Ärzte und Sanitäter." Ein Anrufer aus Ercis sagte dem Sender Habertürk: "Wir sind hier in einer schrecklichen Lage. Alle Leute sind unter eingestürzten Gebäuden verschüttet."

Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach der türkischen Regierung ihre Anteilnahme aus. "Mit Erschütterung habe ich von dem schweren Erdbeben in Ihrem Land erfahren, das so vielen Menschen das Leben gekostet hat", schrieb Merkel an Erdogan. "Den Angehörigen der Opfer gilt unser tiefes Mitgefühl, den Verletzten wünsche ich baldige Genesung." Die Bundesregierung bot der Türkei Hilfe an.

Die Angst vor dem Beben in Istanbul

In der Türkei hatte das letzte Beben der Stärke 7,2 im November 1999 Düzce getroffen und fast 900 Menschenleben gefordert. Die Katastrophe kam nur wenige Monate nach dem großen Beben, das die Region Izmit mit einer Wucht von 7,6 getroffen und mehr als 17.000 Menschen das Leben gekostet hatte.

Kein anderes Land Europas wird so oft von starken Erdbeben heimgesucht wie die Türkei. Zwei Drittel des Landes befinden sich in der Nähe aktiver Verwerfungslinien, heißt es in einem Untersuchungsbericht, der im letzten Jahr dem Parlament vorgelegt wurde; sieben von zehn Türken lebten in Gegenden, in denen das Erdbebenrisiko "extrem hoch" sei. Dem türkischen Innenminister Besir Atalay zufolge sind seit 1950 mehr als 32.000 Menschen einem Erdbeben zum Opfer gefallen, auch die Region Van wird immer wieder getroffen: 1974 starben bei einem Beben dort 4000 Menschen.

Türkische Erdbebenforscher klagen seit Jahren, dass zu wenig in der Gefahrenvorsorge getan werde. Selbst in Provinzen, in denen die Regierung strenge Regeln und Bauvorschriften erlassen hat, werden sie offenbar gern ignoriert. Die Ingenieurskammer IMO inspizierte einen Teil der 1000 Gebäude, die ein Zertifikat für Erdbebensicherheit erhalten hatten und kam zu einem vernichtenden Schluss: "Es wurden Gebäude für sicher erklärt, die es in Wirklichkeit nicht sind", erklärte IMO-Vorsitzender Cemal Gökce.

Im Zentrum der Debatten steht immer wieder die 15-Millionen-Metropole Istanbul. Eines der nächsten tödlichen Beben werde Istanbul treffen, prophezeien Geologen. "Das Beben kann in 50 Jahren kommen", sagte Mustafa Erdik, der Direktor der Kandilli Erdbebenwarte einmal. "Oder aber in zehn Sekunden."

Für Istanbul wird als schlimmster Fall ein Beben der Stärke 7,6 prognostiziert. In einem solchen Fall, fürchtet die Ingenieurskammer, könnten neun von zehn Krankenhäusern in der Stadt einstürzen.

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