Schweiz:Gefängniswärterin soll verurteilten Vergewaltiger befreit haben

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Der Häftling Hassan Kiko, 27, und die Aufseherin Angela Magdici, 32, sind auf der Flucht. (Foto: Kantonspolizei Zürich)

Plötzlich liest sie den Koran, trennt sich von ihrem Ehemann und klaut seinen BMW. Eine spektakuläre Fluchtgeschichte beschäftigt seit Tagen die Schweiz.

Von Charlotte Theile

Fünf Stunden lang merkte niemand etwas. Angela Magdici, 32, Aufseherin im Untersuchungsgefängnis Limmattal in der Nähe von Zürich, hatte ihren Arbeitsplatz gegen Mitternacht verlassen. Sie setzte sich in den schwarzen BMW, den sie gemeinsam mit ihrem Ehemann gekauft hatte, und fuhr Richtung Italien. Vermutlich hatte sie es eilig, denn auf dem Beifahrersitz saß nicht ihr Ehemann, sondern Hassan Kiko, 27, wegen Vergewaltigung zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Kiko stammt aus Syrien, in der Schweiz hatte er sich als Friseur, Putzkraft und Bodybuilder versucht. Schon zweimal stand Kiko wegen Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vor Gericht, im November 2014 dann soll er ein 15-jähriges Mädchen zum Sex gezwungen haben.

Erst um 5 Uhr morgens schlug ein Kollege von Magdici Alarm. Sie hatten zusammen Nachtdienst, alles war wie immer: Einer schläft, der andere wacht. Beziehungsweise: Einer schläft, der andere macht, was er will. Mehr Personal? Es gebe nicht genug Ressourcen, um "in jedem Gefängnis rund um die Uhr mehrere Aufseher zu beschäftigen" heißt es in einer Stellungnahme des zuständigen Amtes für Justizvollzug. Der Mensch sei nun mal ein "Restrisiko", daran könne weder die beste Infrastruktur noch die Technik etwas ändern.

Das Fluchtauto: Ein schwarzer BMW, den sie ihrem Ehemann klaute

Nun aber rätselt die ganze Schweiz, was es mit diesen Menschen, mit Hassan Kiko und Angela Magdici, auf sich haben könnte. Wieso befreit man einen verurteilten Sexualstraftäter? Verlässt den Ehemann, gibt eine sichere Stelle auf, lässt alles stehen und liegen?

Einer, der Auskunft geben kann, ist Magdicis Ehemann, 25 Jahre alt, bis vor kurzem Besitzer eines schwarzen BMW. Jetzt sitzt er "verlassen in seiner Dachgeschosswohnung in Dielsdorf", wie es die Boulevard-Zeitung Blick schreibt. Von dort aus verteilt er Hochzeitsfotos, Autofotos und solche, auf denen man die Tiger-Tätowierung erkennen kann, die seine Frau auf dem Bauch trägt. Kennengelernt haben sie sich auf einer Gala von Thai-Boxern.

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Weitere Fotos zeigen eine dunkelblonde Frau im Thailand-Urlaub, beim Kampfsport, an der Bar. In den letzten drei Monaten habe er Angela kaum noch gesehen, sagt ihr Mann. Sie habe sich plötzlich von ihm getrennt, alle Sachen aus der Wohnung geräumt. Einige Wochen vor der Trennung habe sie begonnen, sich zu verändern. Sie habe SMS auf Arabisch erhalten, im Koran gelesen.

Der Ehemann ist überzeugt: Angela und Hassan sind inzwischen ein Paar - und auf dem Weg nach Syrien. "Sie steht wohl auf kriminelle Männer", glaubt er, "wahrscheinlich war ich ihr zu lieb."

Staatsanwältin Claudia Wiederkehr will diese Einschätzung nicht kommentieren. Es werde international nach beiden gefahndet. Der schwarze BMW, Kennzeichen ZH-528 411, habe vermutlich am Dienstag in den frühen Morgenstunden unbemerkt die Grenze zu Italien überquert.

Doch das ist nicht das einzige, was die Schweizer an diesem Fall bewegt. Ende Februar stimmt das Land über eine weitere Verschärfung des Strafrechts für Ausländer ab. Wer keinen Schweizer Pass hat, soll künftig schon wegen Bagatelldelikten abgeschoben werden, das fordert eine Initiative der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei.

Schon bald beging er Sexualstraftaten in Serie

Ein junger Mann, der 2010 als Flüchtling aus Syrien kam, zunächst in einem evangelischen Pfarrhaus untergebracht wurde und schon bald Sexualstraftaten in Serie beging, ist für die Initiatoren wie ein Sechser im Lotto - so merkwürdig das klingt. Kiko, der im Sommer 2011 mitfühlend im Thurgauer Tagblatt vorgestellt wurde ("Sie hoffen auf Frieden in ihrer Heimat") hätte von der Schweizer Justiz härter angefasst werden sollen, sagen nun manche. Andererseits: Dass ihm eine Wärterin bei der Flucht aus dem Gefängnis hilft, hätte auch die sogenannte Durchsetzungsinitiative nicht verhindern können. Ganz davon abgesehen, dass Abschiebungen nach Syrien zur Zeit gar nicht möglich sind.

Was Angela Magdici, die vor ihrer Hochzeit Vock hieß und einen Schweizer Pass hat, zu dieser Tat bewogen hat, liegt noch im Dunkeln. Auf ihrem Facebook-Profil veröffentlichte sie vor zwei Wochen ein Zitat aus dem chinesischen Kampffilm "House of Flying Daggers". Der Plot: Ein Polizist befreit eine rebellische Kämpferin aus dem Gefängnis und verliebt sich in sie. Das Zitat: "Echte Blumen blühen in der Wildnis." So weit, so klar. "Warum Frauen Bad Boys lieben", fragt sich nun zum Beispiel der Zürcher Tages-Anzeiger - und mutmaßt dann, was "Angela und Hassan, Hassan und Angela - ein schönes Paar. Jung, gut aussehend, verliebt" wohl zusammengebracht haben könnte. Große Gefühle? Toller Sex? Oder gar beides? Man wisse es nicht. Die Facebook-Fotos aber ließen nur einen Schluss zu: "So schlecht passen die gar nicht zusammen."

Sie sind einfach so aus dem Gefängnis spaziert. Das kratzt am Selbstverständnis

Sollte Magdici gefasst werden, drohen ihr drei Jahre Haft. Kiko muss keine Haftverlängerung befürchten: Sich aus dem Gefängnis zu befreien ist nicht strafbar.

Für die Schweizer Justiz ist der Fall vor allem eines: unangenehm. Das 2010 gebaute Gefängnis Limmattal gilt als modern, von den 72 Personen, die dort maximal inhaftiert sein dürfen, hat noch keiner versucht, auszubrechen. Im Kanton Zürich sind Ausbrüche seit mehr als fünf Jahren nicht mehr vorgekommen. Die Schweiz sieht sich als sicheren, fast übervorsichtigen Staat, Polizei und Justiz gelten als gewissenhaft bis penibel. Wenn zwei Menschen einfach so aus einem Schweizer Gefängnis spazieren können, ohne Kalaschnikows oder monatelanges Tunnelgraben, kratzt das am Selbstverständnis. Wenn sie dann noch fünf Stunden auf der Autobahn unterwegs sind, bevor ihr Verschwinden überhaupt bemerkt wird, erst recht.

Roland Zurkirchen, Gefängnisleiter und Vorgesetzter von Angela Magdici, muss sich noch andere unangenehme Fragen gefallen lassen. Etwa, wie es sein kann, dass die Beziehung zwischen Wärterin und Häftling nicht bemerkt wurde. Er habe lediglich gewusst, dass sich die 32-jährige Wärterin vor ein paar Monaten von ihrem Mann getrennt habe, sagte Zurkirchen.

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© SZ vom 12.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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