Schwarzfahren und Ladendiebstahl:Hat die Polizei nichts Besseres zu tun?

  • Die Polizei klagt über Überlastung. Eine Idee: Kleinere Straftaten wie leichte Sachbeschädigung, Ladendiebstahl und Schwarzfahren könnten zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft werden.
  • Kriminologe Dirk Baier gibt zu bedenken, dass die Herabstufung von Diebstahl ein falsches Signal an die Gesellschaft senden könnte.
  • Die Bundesregierung will nicht aktiv werden. Niedersachsen versucht aber, Unterstützung für eine Reform unter den Ländern zu organisieren.

Von Jannis Brühl, Köln

Zum Job einer Polizeigewerkschaft gehört es, Alarm zu schlagen. So sind manche Sätze im neuen "Kriminalpolitischen Programm" des nordrhein-westfälischen Landesverbandes Gewerkschaft der Polizei (GdP) erwartungsgemäß lautstark: "Gegen Jugendbanden und Klaukids muss konsequent eingeschritten werden." Und es geht um angeblich "aggressives Verhalten, das nicht wenige ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger bei polizeilichen Kontakten mittlerweile wie selbstverständlich praktizieren".

Eine Forderung aber beschäftigt sich nicht mit mehr, sondern mit weniger Strafverfolgung.

Die GdP aus dem Westen fordert, bestimmte Delikte, die momentan als Straftaten gelten, nur noch als Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen (das Programm als PDF). Ordnungsämter sollen in diesen Fällen Bußgelder verhängen - und Polizisten wie Staatsanwälte könnten sich auf schlimmere Verbrechen konzentrieren, wie organisierte Kriminalität oder Gewalttaten. In den genannten Fällen müssten sie zum Beispiel die Beschuldigten nicht mehr vernehmen, die Bearbeitung wäre weniger komplex. Dass die Gewerkschaft mit 174 000 Mitgliedern diese Forderung erhebt, könnte eine Debatte befeuern, die seit Jahren eher vor sich hindümpelt.

Diese Straftaten sollen nach Meinung der GdP Ordnungswidrigkeiten werden:

  • Ladendiebstahl, zumindest die einfachen Fälle. Die Herabstufung soll nicht gelten für Banden, die "Klaukids" gezielt in Läden schicken, um zu stehlen.
  • Schwarzfahren. Nur chronische Schwarzfahrer sollen noch strafrechtlich verfolgt werden.
  • Besitz geringer Mengen von Drogen: Derzeit muss die Polizei Anzeige erstatten, wenn sie illegale Drogen bei einer Person findet, selbst wenn die Menge nur den Eigenbedarf deckt. In vielen Fällen entscheiden Staatsanwälte später, das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Polizisten können diese Entscheidung aktuell nicht selbst fällen, wenn sie den Stoff finden.
  • Die Polizei soll außerdem in Nachbarschaftsstreitereien die Befugnis bekommen, die Streitenden an Schlichter zu verweisen. Bisher können das nur Staatsanwälte. So soll die Zahl gegenseitiger Strafanzeigen reduziert werden, die in Nachbarschaftsstreitereien oft anfallen, etwa wegen Hausfriedensbruch.
  • Zudem kann sich die GdP vorstellen, dass leichte Formen der Beleidigung und Sachbeschädigung zu Ordnungswidrigkeiten erklärt werden. Für Graffiti gelte das allerdings nicht, "weil die Schadenssumme so hoch sei", sagt ein Sprecher der nordrhein-westfälischen GdP.

Zu klären ist also die Frage: Hat die Polizei wirklich nichts Besseres zu tun, als sich mit Mini-Delikten herumzuschlagen?

Derzeit "ersaufen Beamte in Routinearbeit", argumentiert der Sprecher der Gewerkschafter. Übernähmen die Ordnungsämter die Fälle, könne das zur "zügigen und ressourcenschonenden Abarbeitung dieser Massendelikte" führen. Ein Bußgeldbescheid werde nach sechs bis acht Wochen übersendet, ein Strafverfahren dauere Monate - und werde dann oft eingestellt. Um eine "Bagatellisierung" gehe es im Übrigen nicht - Täter würden auch Bußgelder als Strafe empfinden.

Für die Reform müsste allerdings das Strafgesetzbuch geändert werden, denn darin sind die Delikte als Straftaten benannt.

"Die Polizei jammert"

Der GdP-Sprecher betont gleich mehrfach, dass man natürlich nicht die Zahl der Polizisten reduzieren wolle. Die Beamten sollten einfach nur sinnvoller eingesetzt werden. Besonders in NRW klagen die Gewerkschaften über Personalnot, die Zahl der eingesetzten Bereitschaftspolizisten beispielsweise bei Fußballspielen hat die Landesregierung schon reduziert. Auch dort haben sie ihre Hunderttausenden Überstunden angesammelt, genauso wie beim Objektschutz. Jetzt sollen nach dem Willen der GdP auch Streifenpolizisten und andere Beamte entlastet werden.

Diese Entlastung kann allerdings nichts über eine Aufstockung des Personals erfolgen. Denn spätestens 2020 muss Nordrhein-Westfalen die Schuldenbremse einhalten. Zudem kritisieren Experten: Der von den Gewerkschaften erweckte Eindruck, die Zahl der Polizisten gehe zurück, sei falsch (mehr zur Lobbyarbeit der Gewerkschaften in diesem NDR-Beitrag). Wie dem auch sei: Die Regierung in Düsseldorf macht derzeit wenig Anstalten, die Zahl der Beamten deutlich zu erhöhen.

Das sagen Kriminologen

Kriminalforscher sind sich nicht ganz einig, was eine Änderung bringen würde. Thomas Feltes von der Ruhr-Uni Bochum ist dafür. Er sagt: "Ich beglückwünsche die GdP zu dieser späten Einsicht. Das ist überfällig." Die Verfolgung vieler kleiner Delikte halte Polizei und Justiz unnötig auf.

Dirk Baier vom Kriminoiogischen Forschungsinstitut Niedersachsen sieht das anders. Es sei das falsche Signal, Diebstahl lascher zu behandeln: "Als Soziologe sage ich: Das steht den Normvorstellungen der meisten Menschen entgegen." Das System aus Kontrollen und Prävention funktioniert Baier zufolge sehr gut, gerade bei jugendlichen Dieben: In Untersuchungen seines Instituts sei die Rate klauender Jugendlicher auf sieben Prozent gesunken - von 35 Prozent in den Neunzigern. Eine Ausnahme sieht er beim Schwarzfahren: Das nähmen tatsächlich viele Menschen nicht als Straftat wahr.

Baier findet die Debatte seltsam: "Die Polizei jammert über das, was ihre Aufgabe ist. Als würde ein Lehrer sich übers Unterrichten beschweren."

Was passiert jetzt?

In Berlin erst einmal nichts. Das Bundesjustizministerium erklärt, es werde in der Frage nicht aktiv werden. Und ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Justizministeriums sagt: Man sei zwar "durchaus offen" für Gespräche wie von der NRW-GdP angeregt, vor allem aber müsse es zunächst eine "gesellschaftliche Diskussion" geben, mit welchen Delikten die Behörden milder umgehen könnten.

Engagierter ist das grün geführte Ministerium in Niedersachsen. Auf der Justizministerkonferenz im Juni vergangenen Jahres wollte es mit den Ministerien der anderen Länder diskutieren, ob man beim Schwarzfahren oder Diebstahl von Waren unter 50 Euro nicht neue Wege gehen könn,; zum Beispiel mit sozialer Arbeit statt Freiheitsstrafen. Oder eben, indem man sie zur Ordnungswidrigkeit herabstuft.

Aber das Thema wurde von der Tagesordnung genommen, die Minister selbst diskutierten nicht einmal über einen Beschluss. Jetzt werden sich auf Einladung Niedersachsens immerhin Fachleute aus den Ministerien der Länder damit befassen. Ihre Arbeitsgruppe zum Umgang mit Bagatellstrafen trifft sich zum ersten Mal im Mai in Hannover. Am Ende könnte eine Bundesratsinitiative stehen - das würde der GdP im Westen sicher gefallen.

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