Schifffahrtsexperte zu Rettungsbooten:"Grundlegendes hat sich seit der Titanic nicht geändert"

Bei einer Rettungsübung auf einem Kreuzfahrtschiff sind fünf Menschen ums Leben gekommen. Wie kann so ein Unglück passieren? Jens-Peter Hoffmann ist Sachverständiger für Sicherheit in der Schifffahrt. Ein Gespräch über die Probleme mit Rettungsbooten.

Von Lena Jakat

Ein Rettungsboot kracht bei einer Übung an Bord der Thomson Majesty aus 30 Metern Höhe ins Wasser und begräbt acht Crew-Mitglieder des Kreuzfahrtschiffs unter sich. Fünf Menschen sterben, drei werden verletzt. Wie kann ein solches Unglück passieren? Welche Regeln gibt es für Rettungsübungen? Gibt es Alternativen zu Rettungsbooten? Jens-Peter Hoffmann arbeitet seit 40 Jahren als Sachverständiger in der Schifffahrt. Im vergangenen Jahr überprüfte er für den ADAC Kreuzfahrtschiffe auf ihre Sicherheitsvorkehrungen. Ein Gespräch über die Sicherheit an Bord.

Süddeutsche.de: Herr Hoffmann, nach dem Unglück vor La Palma heißt es, das sei kein Einzelfall. Wie gefährlich sind solche Übungen mit Rettungsbooten?

Jens-Peter Hoffmann: Es kann durchaus mal was passieren, Tote und Verletzte hat es bei ähnlichen Unfällen schon gegeben; auch auf einer deutschen Fähre ist jemand bei einer solchen Übung ums Leben gekommen. Insgesamt ist das aber sehr selten. Und diese Übungen müssen nun einmal gemacht werden, damit die Technik getestet werden kann und die Menschen, die sie bedienen, üben können. Sie sind in den internationalen Sicherheitsvorschriften für die Seeschifffahrt vorgeschrieben.

Wie oft wird das Herablassen der Rettungsboote bei einem Kreuzfahrtschiff geübt?

Einmal pro Woche wird das an ein, zwei Booten getestet, mit wechselnden Leuten, damit alle in Übung bleiben. Das passiert immer dann, wenn das Schiff gerade im Hafen liegt; dann sind alle Passagiere an Land und die Crew hat Zeit. Einmal im Monat müssen alle Rettungsboote zu Wasser gelassen werden. Die zuständigen Besatzungsmitglieder gehen dann von Boot zu Boot, lassen sie alle nacheinander ab und schauen, ob die Technik funktioniert.

Bei der Thomson Majesty ist ein Rettungsboot aus 30 Metern Höhe ins Meer gestürzt. Wie kann so etwas passieren?

Es muss eigentlich einen technischen Defekt gegeben haben. Der zuständige Bootsmann lässt das Boot zu Wasser, indem er eine Bremse ein wenig löst. Zusätzlich gibt es noch eine automatische Fliehkraftbremse. Das heißt, das Rettungsboot kann rein technisch nur mit einer gewissen Geschwindigkeit abgeseilt werden, selbst wenn die Crew einen Fehler macht. Und ausgehakt werden kann das Boot erst, wenn es im Wasser ist, so sind die Haken konstruiert. Es muss also etwas kaputt gewesen sein.

Die Crewmitglieder, die vor den Kanaren verletzt wurden, saßen in dem Boot. Eine britische Matrosengewerkschaft fordert deshalb, diese Übungen mit leeren Rettungsbooten durchzuführen. Wäre das nicht eine Möglichkeit?

Nein. Schließlich muss der ganze Ablauf geübt werden. Das Rettungsboot muss vorne und hinten aus dem Seil ausgeklinkt werden, das geht aber nur vom Boot aus. Und der Bootsführer probiert, ob der Motor läuft. In der Regel sind bei einer solchen Übung deswegen mindestens drei Crewmitglieder im Rettungsboot, manchmal auch ein paar mehr. Auf den großen Kreuzfahrtschiffen besteht die Besatzung oft aus mehr als 1000 Leuten. Auch die Stewards, die Köche und Artisten müssen an solchen Übungen mal teilnehmen, um das Gefühl dafür zu kriegen, wie es ist, in einem Rettungsboot zu sitzen. Herabgelassen werden die Boote aber nur von speziell ausgebildeten Seeleuten.

Wie sieht so eine Ausbildung aus?

Jeder, der zur See fahren und zum seemännischen oder technischen Personal an Bord gehören will, braucht einen Rettungsbootschein, das ist in den Ausbildungsrichtlinien der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation so vorgeschrieben. In Deutschland dauert die entsprechende Schulung eine Woche. Da wird an regulären Davits - so heißen die Winden für die Rettungsboot - immer wieder geübt, wie in der Schule. Auch das Manövrieren mit einem Rettungsboot wird geübt.

Wie haben sich die Rettungsboote in den vergangenen Jahrzehnten technisch verändert?

Grundlegendes hat sich seit dem Untergang der Titanic vor 100 Jahren eigentlich nicht geändert. Die Boote sind heute meist geschlossen, die Passagiere steigen durch Luken ein; sie haben alle einen Motor, rudern muss heute niemand mehr. Die Technik ist besser geworden, aber das System ist dasselbe: Im Notfall werden die Rettungsboote an den Seiten des Schiffes ausgeschwenkt und abgelassen. Das ist die Achillesferse bei der Sicherheit in der Passagier-Schifffahrt.

Inwiefern?

Stellen Sie sich mal vor, Sie müssen Tausende Passagiere bei acht Meter hohen Wellen auf offener See in Rettungsboote verfrachten. Da wird zuerst das Herablassen der Boote zum Problem und dann das Aushaken. Irgendwie werden die Boote das Wasser schon erreichen; die Frage ist nur, wie. Ein richtig großes Unglück auf offener See darf gar nicht erst passieren. So ein Schiff kann binnen einer halben Stunde sinken - die komplette Evakuierung dauert je nach Schiffsgröße unter idealen Bedingungen mindestens eine Stunde.

Gibt es denn keine Alternative zum klassischen Rettungsboot?

Auf Frachtschiffen gibt es Freifallboote, die schräg auf dem Heck des Schiffes liegen. Da klettert im Notfall die ganze Besatzung rein, klinkt sich aus und rutscht wie mit einem Schlitten ins Meer. Für Kreuzfahrtschiffe ist das leider keine Alternative, weil am Heck eines Schiffes höchstens drei oder vier solcher Freifallboote platziert werden können - viel zu wenige bei der großen Menge von Menschen an Bord. Auf Kreuzfahrtschiffen gibt es auch Rettungsinseln, die ins Meer geworfen werden und sich dann von selbst aufblasen. Das Problem ist nur: Die Leute müssen erst ins Wasser springen und dann dort hineinkrabbeln. Eine echte Lösung für das Problem mit den Rettungsbooten gibt es noch nicht.

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