Sao Paulo:"Wir befinden uns in einem Krieg"

Die Unruhen in der drittgrößten Stadt der Welt zeigen uns eine mögliche Zukunft der Megacitys - sie ähnelt Kriegsschauplätzen wie in Bagdad.

Petra Steinberger

Die Polizeiwachen der Stadt wurden von bewaffneten Banden mit Gewehren und Handgranaten angegriffen, später auch die Banken. Restaurants und Läden blieben geschlossen, Busse wurden in Brand gesetzt.

Sao Paulo, AFP

Sao Paulo: Verslumte Megacity, in der der Abstand zwischen Reichen und Armen dramatisch wächst.

(Foto: Foto: AFP)

Die meisten Bewohner sperrten sich zu Hause ein, Kinder gingen nicht zur Schule. In zwei Nächten starben mehr 100 Menschen. Der Chef der Sicherheitskräfte sagte: "Wir befinden uns in einem Krieg", und kündigte eine Gegenoffensive an.

Hätte es diese zwei Nächte mit ihren vielen Toten in einer anderen Stadt gegeben, auf der anderen Seite der Erde, dann hätte man wieder einmal davon gesprochen, dass es nun endgültig an der Zeit sei, dass sich Amerika zurückziehe aus dem Irak. Diese Nächte wären nur ein weiterer Beweis gewesen, dass das Land im Chaos versinkt.

Die Macht der Mafia

Der Ort jedoch, der diese Nächte erlebte, ist Sao Paulo, die größte Stadt Brasiliens und drittgrößte der Welt. Die brasilianische Mafia wollte offenbar ihre Macht demonstrieren, indem sie die Stadt in Angst und Schrecken versetzte.

Aber sie demonstrierte noch viel mehr: Megastädte wie Sao Paulo können Kriegsschauplätzen wie zum Beispiel Bagdad ähneln - und sie könnten zum bevorzugten Territorium werden für das, was Militärstrategen für die Kriege der Zukunft halten: kleine, unvorhersehbare, unbegrenzt andauernde Scharmützel, die den mächtigen Gegner zermürben.

"Wir befinden uns in einem Krieg"

Aber anders als in solchen Kriegen könnte aus Städten wie Sao Paulo keine Besatzungsmacht abziehen. Stattdessen müssten Recht und Ordnung gehen. Also das, was man auch als freie Gesellschaft kennt.

Mexiko-City, AP

Mexiko-City: Eine Megastadt im Smog.

(Foto: Foto: AP)

Der Krieg in den Städten, der "urban warfare" ist uralt. Stets war der Rückzug in Gassen und Häuserschluchten die Taktik der Schwachen, die auf dem Schlachtfeld kaum eine Chance gehabt hätten. Städte machen unsichtbar, man verschwindet unter den Zivilisten und taucht wieder auf wie Maos sprichwörtlicher "Fisch im Wasser".

Doch kommt in den verslumten Megastädten der Dritten Welt ein gigantisches Reservoir an potenziellen Kämpfern dazu: die Masse der Armen und Elenden, die nur zusehen können, wie der Abstand wächst zwischen ihnen und den Reichen und Privilegierten.

Sie leben mit und unter ihnen - und dennoch bleibt der Wohlstand unerreichbar. Und sie, die Armen, sind es, die vielleicht einmal als Besatzer angesehen werden.

In der irakischen Hauptstadt haben sich die Besatzer und ausgewählte irakische Verbündete in der so genannten "Green Zone" im Herzen der Stadt, dem einstigen parkähnlichen Regierungsviertel Saddams, niedergelassen und es in eine Festung verwandelt, in eine No-Go-Area für gewöhnliche Iraker.

Nur einzelne Raketen stören die Ruhe. Die "Green Zone" ist eigentlich nichts anderes als die militarisierte Version einer amerikanischen "gated community" mitsamt Torwache und Clubhaus für das versammelte Militär. Doch draußen, vor den Toren und Absperrgittern, übernehmen Milizen die Ordnungsgewalt in einem Staat, der beinahe nur noch auf dem Papier existiert.

Die Struktur einer "Green Zone" findet man in allen Megastädten - in Kairo, Shanghai, Bangkok, Jakarta. Doch die Nilinsel Zamalek in Kairo oder die "Green Zone" von Bagdad nehmen sich geradezu traditionell aus gegen Sao Paulos vertikale Teilung.

Mehr als 240 Hubschrauberlandeplätze sind auf den Dächern der Stadt verteilt, damit die Reichen dem Smog und Elend der Straßen möglichst wenig ausgesetzt sind. Oben, wo die Luft noch sauber ist, kann man vergessen oder ignorieren, was dort unten geschieht.

Denn die Slums dieser gewaltigen Städte, aus denen sich Staat und Stadtverwaltung längst zurückgezogen haben, werden von ideologischen oder kriminellen Gruppen übernommen. Sie füllen das Vakuum und errichten kulturell, religiös oder einfach nur durch Gewalt legitimierte Machtstrukturen.

In den Städten des Nahen Ostens sind es die Muslimbrüder. In vielen Städten Mittelamerikas haben gewalttätige, in US-Gefängnissen trainierte Straßenbanden die Macht übernommen. In Sao Paulo sind es Mafiaclans. Oft ist der Unterschied zwischen Prediger, Guerilla, Terrorist und Mafia nur noch nominal.

Gleichzeitig ersetzen diese Gruppen die sozialen Verpflichtungen und Institutionen, die ein schwacher oder korrupter Staat schon längst aufgegeben hat: Sie errichten Schulen und Kliniken und halten eine wenn auch höchst primitive Gerichtsbarkeit aufrecht, was ihnen eine gewisse Loyalität der Bewohner sichert.

Die Ohnmacht des Staates

Staaten und Stadtverwaltungen haben es im Lauf der Geschichte immer wieder bewusst vorgezogen, sich aus gefährlichen und verarmten Gegenden herauszuhalten. Solange das Problem nicht übergriff auf die Gegenden, wo die "anständigen" Bürger wohnten, konnte es sich von selbst lösen.

Brasiliens Oberrabbiner hat die Situation in Sao Paulo eine "Diktatur der Verbrecher" genannt. Doch so manche Megastadt ist auf dem besten Weg, sich in das futuristische Gebilde aus John Carpenters Film "Escape from New York" (Die Klapperschlange) zu verwandeln, in ein Gebiet, in dem der Staat gar nicht mehr agiert - oder nur noch mit jener antidemokratischen Gewalt, die man so fürchtet.

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