Rio de Janeiro:Olympiakater

Ein abgeschossener Militärhubschrauber, Leichen mit Folterspuren und ein eskalierender Krieg zwischen Drogendealer-Milizen: Drei Monate nach den Spielen von Rio ist die Stadt zurück in der Realität.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Gut drei Monate ist es her, dass Rios Favela "Cidade de Deus" (Stadt Gottes) zuletzt internationale Schlagzeilen produzierte, und zwar positive, ausnahmsweise. Die Judoka Rafaela Silva, 24, geboren und aufgewachsen in ebenjener Favela, hatte bei den Olympischen Spielen von Rio die erste Goldmedaille für Brasilien gewonnen. Die auf so vielfältige Weise zerstrittene Nation vergoss kollektive Freudentränen, die halbe Welt nahm Anteil an der Märchengeschichte aus einem der größten Armenviertel der Olympiastadt. Natürlich freuten sich auch die Inszenierungskünstler der olympischen Bilderwelten. Der Sport, das war ja die Kernbotschaft dieser Medaille, hatte wieder mal Brücken gebaut und Grenzen gesprengt.

Wer genau hinsah, konnte schon damals Risse und Widersprüche erkennen. Cidade de Deus, weltbekannt durch den Film "City of God" von Regisseur Fernando Meirelles, liegt nur ein paar Kilometer von jenem frisch betonierten Olympiapark entfernt, für den unzählige Favela-Bewohner aus ihren Häusern und Hütten vertrieben wurden. Leute wie Rafaela Silva.

In Rio gibt es an die 1000 Favelas; in den vergangenen Tagen war ausgerechnet in Cidade de Deus zu beobachten, was das große Sportfest neben rührenden Geschichten, tollen Bildern und neuen Stadien noch so alles hinterlassen hat. Verlorene Illusionen, leere Kassen, einen entfesselten Drogenkrieg. Die Bilanz des zurückliegenden Wochenendes in der Stadt Gottes lautet: ein abgestürzter Polizeihubschrauber, vier tote Polizisten, sieben weitere Leichen.

Ein Video zeigt Verbrecher, die offenbar den Abschuss des Hubschraubers feiern

Für Olympia wurde Rio von 80 000 Soldaten und Polizisten aus dem ganzen Land bewacht. Die Stadt sah in diesen teuren Festwochen sicherer aus, als sie ist. Jetzt, da sich die Weltöffentlichkeit wieder anderen Schauplätzen zuwendet, zeigt sich die Realität dafür umso schonungsloser. Der Bundesstaat Rio de Janeiro hat den finanziellen Notstand erklärt, viele Beamte, darunter auch Polizisten, werden entweder unregelmäßig oder gar nicht bezahlt. In öffentlichen Gebäuden bleiben Aufzüge stecken, weil sie nicht mehr gewartet werden, Polizeiautos bleiben stehen, weil kein Geld für Benzin da ist, in manchen Dienststellen gibt es nicht einmal mehr Klopapier. All das war schon vor den Spielen bekannt, seither hat sich die Lage aber noch einmal zugespitzt. Und es ist, als hätten die Verbrecherbanden der Stadt nur auf diesen absehbaren Olympiakater gewartet.

Am Freitag versuchten offenbar 50 Drogendealer aus Cidade de Deus, ihr Territorium auf das benachbarte Viertel "Gardênia Azul" auszuweiten, das von einer Bürgermiliz kontrolliert wird. Diese Milizen bestehen oft aus ehemaligen Polizisten und Soldaten, die von den Bewohnern Schutzgeld erpressen und ebenfalls in den Drogenhandel verstrickt sind. Bei dem Invasionsversuch kam es zu heftigen Schusswechseln, wobei auch Unbeteiligte bedroht wurden. Die "Linha Amarela", eine der Hauptverkehrsadern Rios, wurde deshalb gesperrt. Mit Unterstützung der Nationalgarde versuchte die Militärpolizei (PM) die Situation unter Kontrolle zu bringen. Die Lage eskalierte allerdings, als am Samstagabend auf der Straße, die Cidade de Deus und Gardênia Azul trennt, ein PM-Hubschrauber zerschellte. Die vier Militärpolizisten an Bord waren sofort tot.

Schnell machte das Gerücht die Runde, der Helikopter sei von Banditen vom Himmel geholt worden. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt in Rio. Auf einem Video waren mutmaßliche Verbrecher zu sehen, die offenbar den Abschuss des Hubschraubers feierten. Der Sicherheitschef des Bundesstaats, Roberto Sá, sagte zwar, die Absturzursache sei ungeklärt, in einer ersten Untersuchung seien keine Einschusslöcher gefunden worden, möglicherweise habe es sich um einen technischen Defekt gehandelt. Beunruhigend jedoch wäre das eine wie das andere.

Mindestens ebenso beunruhigend war das, was Favela-Bewohner am Sonntag auf einer Brachfläche entdeckten: die Leichen von sieben jungen Männern, die seit Samstag vermisst worden waren. Augenzeugen berichteten der Zeitung O Globo von Folterspuren und Anzeichen auf Hinrichtungen aus kurzer Distanz. Die Polizei habe sie zunächst nicht zu den Toten gelassen. Der Vater eines der Opfer sagte, sein Sohn sei wie die anderen Opfer ein Dealer gewesen, sie hätten sich aber ergeben, als die Spezialeinheiten der Polizei anrückten. Sicherheitschef Sá warnte auch in diesem Fall vor "voreiligen Schlüssen".

Cidade de Deus gehört zu jenen Favelas, die seit einigen Jahren unter der Kontrolle der "Befriedungspolizei" (UPP) stehen. Das einst als vorbildlich gefeierte Konzept gilt inzwischen als gescheitert. In vielen Vierteln, die als befriedet galten, sind zuletzt wieder schwere Kämpfe ausgebrochen. Dort, wo die überforderten UPP-Einheiten die Kontrolle verloren haben, wird oft das berüchtigte "Bataillon für spezielle Polizeioperationen" (Bope) zu Hilfe gerufen; auch am Wochenende in Cidade de Deus. Die Kampftruppe hat einen Totenkopf im Wappen, sie nimmt eher keine Gefangenen. Laut einer Statistik von Human Rights Watch hat Rios Polizei im vergangenen Jahrzehnt mehr als 8000 Menschen getötet. Die meisten waren jung, schwarz, männlich und lebten in einer Favela. Wie die sieben Toten vom Sonntag.

Eine Schlussfolgerung, die bestimmt nicht voreilig ist, lautet: Die Stadt Gottes hat jetzt eine Olympiasiegerin. Was sie immer noch nicht hat, sind vernünftige Schulen, eine ordentliche Gesundheitsversorgung, ein Entwicklungskonzept, das jungen Leuten ernsthafte Alternativen zum Drogenhandel bietet. Und eine Polizei, der die Leute vertrauen können.

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