Reportage:Hinterm Mond geht die Sonne auf

Der alte Irving Tobin hinkt gut gelaunt zwei Jahre hinterher: Er liest jede Ausgabe der dickleibigen New York Times - und zwar Zeile für Zeile, so gut wie komplett.

von Tobias Matern

Bis vor kurzem war alles noch in Ordnung. Wenigstens gab es eine wissenschaftlich gestützte Illusion. Zwar haben die wenigsten wirklich verstanden, was der Physiker Stephen Hawking genau meinte, wenn er von schwarzen Löchern und existierenden Parallel-Universen sprach.

Aber zum Phantasieren reichte es. Von einer mythenhaften Welt ließ sich schwärmen, von anderen - vielleicht in der Vergangenheit, vielleicht in der Zukunft liegenden - Zeitebenen, die in den Tiefen der Galaxie verborgen sein müssten.

30 Jahre lang hat Hawking seine Theorie hartnäckig verteidigt - bis er sie auf der "17. Internationalen Konferenz über Relativität und Gravitation" in Dublin fast schon beiläufig selbst demontierte.

Träumenden Laien hat er damit seine akademische Rückendeckung entzogen. "Es gibt kein Baby-Universum, wie ich einst dachte", erklärte der an den Rollstuhl gefesselte Forscher. Was bleibt? Die Hoffnung. Und die Suche nach neuen Vorbildern.

Eigene Zeitinsel

Dies ist die Geschichte von Irving Tobin, der sich nie an so hochfliegenden Entwürfen wie denen des Genies Hawking orientiert hat. Der 80-jährige Tobin ist eher ein Handwerker, der sich eine eigene Zeitinsel gezimmert hat.

In seinem verzögerten Nachrichten-Universum dümpelt der Mann aus Elizabeth im US-Bundesstaat New Jersey gemächlich der Aktualität hinterher.

In der Welt des kleinen Herrn ist Gerhard Schröder bei den Deutschen ein umjubelter Held, weil er Standfestigkeit nicht wegen Hartz IV beweist (da ist Tobin noch nicht angelangt), sondern in Fragen des Irakkriegs.

Umfragewerte der SPD sind prima

Die Umfragewerte der SPD sind insgesamt prima. Auch dem Amerikaner Tobin gefällt Schröders kategorische Ablehnung gegen einen möglichen Feldzug am Tigris.

"Ich bin gespannt, ob Deutschland seine Meinung noch ändern wird", sagt er. Wenn US-Marines Bagdad angreifen, so fragt sich Tobin, werden dann doch noch Bundeswehrsoldaten an ihrer Seite kämpfen, um Saddam Hussein zu stürzen?

Die Antwort wird Tobin vermutlich in ein paar Monaten erhalten. In seinem Paralleluniversum hat Colin Powell erst gestern vor den Vereinten Nationen Satellitenfotos mobiler Waffenlabors im Irak präsentiert.

"Ein Teelöffel trockenes Anthrax, ein kleines bisschen, etwa diese Menge" reiche schon, sagte Powell und hielt ein Röhrchen mit weißem Pulver in die Runde des skeptischen Sicherheitsrates.

Auf den Tonbändern, die der Außenminister vorspielte, amüsierten sich angeblich irakische Beamte über die Chuzpe, mit der sie die UN-Inspektoren an der Nase herumgeführt hätten.

All dies habe Powell aus einem Grund referiert: Er wolle, so erfährt Tobin es heute aus der Zeitung, "beweisen, dass Saddam Hussein eine unmittelbare Bedrohung für die Welt darstellt" und ein Krieg nun immer wahrscheinlicher wird.

Die olympische Flamme loderte für Irving Tobin letztmals in Sydney und bislang nicht in Athen. Arnold Schwarzenegger kämpft auf der Leinwand gegen Terminatoren und nicht im kalifornischen Parlament.

Zwar hat Tobin mitbekommen, dass George Bush auch in den nächsten vier Jahren das Weiße Haus bewohnen wird, aber warum und mit welchem Abstand der Präsident Herausforderer John Kerry letztlich auf Distanz hielt, weiß er nicht. Auch Stephen Hawkings 180-Grad-Schwenk ist ihm unbekannt.

Das alles bedeutet nicht, dass Irving Tobin kein Interesse an der Welt und den Zeitläuften hätte. Im Gegenteil. Jeden Tag liest er seine Zeitung, die New York Times.

Anschluss verloren

Und zwar Wort für Wort, Satz für Satz, Artikel für Artikel, von der ersten bis zur letzten Seite. Und da die Times ein reichlich voluminöses Blatt ist, hat der alte Mann den Anschluss verloren.

Tobin weiß, dass der Irak-Krieg stattgefunden hat und Saddam Hussein in Gefangenschaft sitzt. Manchmal hört er im Autoradio, was in der Welt passiert, und auch Freunde und Bekannte verplappern sich mitunter.

Hinterm Mond geht die Sonne auf

Einzelheiten aber kennt er nicht und will sie auch nicht wissen. Wenn er das Gefühl hat, im Radio eine Geschichte zu genau erklärt zu bekommen, schaltet er ab und wartet, bis sein Hausblatt sie ihm nachliefert.

Wissen hat Tobin schon immer wie eine Delikatesse behandelt. Als Jugendlicher übersprang er zwei Jahrgänge in der Schule und machte dann immer noch als Drittbester den Abschluss.

Ausnahme: Der Sportteil

Der Nachrichtenhungrige bringt es nicht übers Herz, seine Zeitung zu entsorgen, bevor sie nicht ausgelesen ist. Nur eine Ausnahme macht er von seiner strikten Regel: Den Sportteil pflückt er sofort raus und wirft ihn ungelesen weg.

An jedem Tag der Woche, 365 mal im Jahr, erscheint die NYTimes, das Aushängeschild des amerikanischen Journalismus. Sonntags bringt sie mitunter bis zu vier Kilogramm auf die Waage.

Viele Bücher sind weniger umfangreich - und deshalb hängt der in New York geborene Tobin mit seiner Lektüre um rund zwei Jahre zurück. "Politik und Wirtschaft interessieren mich, dann die ganzen Berichte über New York City.

Und Artikel über Mord- und Totschlag, die Nachrufe, die Kommentare, der Kunstteil, die Leserbriefe, der Reiseteil, das Magazin, die Buchrezensionen", sagt er.

An Wochenenden durchforstet er drei bis vier komplette Ausgaben. Aber meistens hat der Allesleser Probleme, die drei Stunden abzuzweigen, die für die Artikelsammlung einer Tagesausgabe nötig sind.

Denn auch im hohen Alter geht er jeden Tag acht Stunden in seine Anwaltskanzlei, um dann vor Gericht für die Mietangelegenheiten seiner Mandanten zu streiten.

Während des Gesprächs in seinem Büro muss Tobin ständig das Telefon beantworten. Drei seiner Partner machen gerade Urlaub. Er steht auf Abruf bereit.

"Ich will nichts versäumen"

Darunter leidet natürlich auch seine Passion. Aber das ist ihm egal. Er macht sich da keinen unnötigen Stress. Zwei Dinge will Tobin in seinem Leben nie tun: In Rente gehen und eine Zeile in der New York Times überspringen.

"Ich will nichts versäumen, der Gedanke, eine Geschichte auszulassen, ist unerträglich", sagt er und fügt hinzu: "Es ist gar nicht so besonders, was ich da mache."

Eigentlich ist es das schon. Um die genauen Motive zu verstehen, muss man bis in seine Kindheit zurückgehen. Seine Eltern taten sich mit dem Lesen schwer.

Tobins Mutter besuchte nie eine Schule, der Vater beendete seine Ausbildung nach vier Jahren. "Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Bildung nicht gefördert wurde", erinnert sich Tobin.

Besucht man ihn daheim, öffnet eine elegante, energische, bis über beide Ohren strahlende Dame die Tür. "Ah, Besuch, hi, wie geht es Ihnen", sagt sie fröhlich. "Das Durchgeknallte an meinem Mann ist, dass er nicht einmal weiß, wie durchgeknallt er ist", erklärt Phyllis Tobin noch bevor die erste Frage über das ungewöhnliche Hobby ihres Gatten gestellt wurde.

"Hab ich nicht Recht?", fragt sie ihn, bevor sie in die Küche verschwindet, um einen weiteren Gemüseburger mit Salat für das Mittagessen vorzubereiten.

"Ich schätze schon", nuschelt der Angesprochene und grinst. "Wenn Du magst, darfst Du unserem Besucher Deine Seite des Schlafzimmers zeigen", ruft die 69-Jährige vom Herd her. "Aber nur Deine Seite."

Seine Seite des Schlafzimmers ist mit einem Nachttisch ausgestattet, der bis zur Decke ragt und sechs Monate New York Times schlucken kann. Es ist der Zeitraum, den er als Nächstes beackern wird.

Im Hause Tobin werden Zeitungen nach einem ausgeklügelten Rollsystem archiviert. Phyllis schmökert am Erscheinungstag, stapelt die Blätter dann auf einem Stuhl im Flur, der etwa 30 Tage trägt.

"Ich bin eine verträgliche Ehefrau. So lange die Rückenlehne nicht überquillt! Wenn er die Times dann nicht in seinen Bereich einordnet, kann ich mich ganz schön aufspielen", sagt sie am Mittagstisch.

Ihr Mann lagert die Zeitungen dann stapelweise in einem schwarzen Regal vor dem Schlafzimmer. Wenn er einen Monat ausgelesen hat, rutschen fünf Monate kollektiv jeweils eine Ebene nach unten.

Aus dem Flur holt Tobin dann das nächste Bündel, um es in den Nachtschrank einzusortieren. Nicht immer sind es komplette Jahrgänge. Wenn mal eine New York Times vor seiner Tür gestohlen wird oder der Paperboy schwänzt, kauft Tobin diese Ausgaben nicht nach.

Boden gutmachen im Urlaub

Auch auf Auslandsreisen sammelt er nicht die aktuellen Zeitungen, wohl aber nimmt er alte Stapel in Koffern mit, um - im wahrsten Sinne des Wortes - Boden gutzumachen.

"Er hat da immer eine Gruppe Amerikaner um sich herum, die nur den Schriftzug New York Times zu sehen brauchen, um sich bei ihm zu erkundigen, ob sie darin nach ihm lesen dürfen.

Mein Mann macht sich immer einen diebischen Spaß draus, indem er einfach so tut, als sei das, was er da liest, ganz aktuell. Ist es ja auch, in seiner eigenen Welt. Hab ich Recht, Irving?" "Natürlich, Phyllis." Das ganze Mittagessen langt foppt sie ihren Irving wie eine frisch Verliebte. "Darf ich dem Herrn die Simbabwe-Geschichte erzählen?" "Natürlich, Phyllis."

Vor ein paar Jahren lag sie nach einer Herz-Operation im Krankenhaus. Eine junge Krankenschwester aus Simbabwe versorgte die Rekonvaleszentin. Ihr Mann war begeistert.

Endlich konnte er seine aus der New York Times erworbenen Kenntnisse über Südafrika testen. "Die Frau war richtig glücklich, wie viel er über ihr Zuhause wusste", sagt Phyllis.

Nur als er sie über die in ihrer Heimat herrschende Trockenperiode ausquetschte, musste die Pflegerin passen. Aus großen, verunsicherten Augen schaute sie ihn an und stotterte: "So weit ich weiß war die letzte Trockenperiode in Simbabwe vor zwei Jahren."

Phyllis vermittelte. "Ich lag da, alle Viere von mir gestreckt und habe gerufen: ,Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche. Aber ich muss Ihnen sagen, dass sie es mit einem Mann zu tun haben, der Zeitungen von vor zwei Jahren liest. Es ist völlig verständlich, wenn Sie nicht verstehen, was er da mit Ihnen diskutieren will.' Ich habe dich gerettet, Irving, nicht wahr?'" "Natürlich, Phyllis."

Gerettet hat sie ihn auch vor einem Leben mit einer Lokalzeitung. Vor 29 Jahren lernten sich beide nach jeweils gescheiterten ersten Ehen kennen.

Bis dahin abonnierte Irving das Elizabeth Daily Journal. Phyllis war es, die ihm die New York Times ans Herz legte. "Ein so kluger Mann, und dann so ein Käseblatt, das konnte ich nicht fassen", sagt sie. Für ihn war es in beiden Fällen Liebe auf den ersten Blick.

"Meine Frau ist wirklich ein Segen. Wir sind wahre Seelenverwandte", sagt er, während Phyllis in die Küche entschwunden ist, um die Teller in die Spülmaschine zu räumen. "Außerdem würde ich ohne sie nicht die New York Times lesen."

Es gibt gute Gründe, sich ausgiebiger mit diesem Blatt zu beschäftigen, das im Kopf seit jeher den Slogan trägt: "All the News That's Fit to Print".

Jeden Tag fließen aus den Notizblöcken der Journalisten Geschichten, die zu doppelt und dreifach redigierten Artikeln verarbeitet werden. Bei den Oscars der amerikanischen Printmedien, den Pulitzer-Preisen, sahnt die NYT fast immer die meisten Auszeichnungen ab.

Kluge Kolumnisten streiten für und gegen die Bush- Administration, Edelfedern wie Thomas Friedman bieten Lösungsvorschläge für den Nahostkonflikt, und die Leser erfahren auch mal, warum in Chile nun die Hoffnung regiert.

Statt einiger weniger, immer wieder über das Gleiche räsonierender Leitartikler ist ein komplettes Ressort damit beschäftigt, die Linie des Hauses auszudiskutieren und dann ohne Autorenzeile zu veröffentlichen.

Nachricht und Meinung sind streng getrennt. Selbstkritik ist bei dem Blatt, zu dessen Ehren der "Long Acre Square" Anfang des 20. Jahrhunderts in "Times Square" umbenannt wurde, an der Tagesordnung.

So entschuldigte sich die Redaktion auf mehreren Seiten für die zu regierungsfreundliche Berichterstattung vor dem Irak-Krieg. Davon weiß Irving Tobin selbstverständlich noch nichts.

Wenn es nach seiner Frau ginge, sollte er auch mal in einem Buch schmökern, aber da weigert er sich meistens. Sie hingegen liest dicke Wälzer über Weltreligionen und die menschliche Seele.

Intellektueller Hungertod

Vor allem letztere fasziniert Phyllis Tobin. Sie ist Psychologin und trifft noch regelmäßig Patienten. Aber ihren Mann möchte sie lieber nicht genauer analysieren und begnügt sich mit einer knappen Diagnose: "Für ihn wäre ein Leben ohne Zeitung der intellektuelle Hungertod."

Dennoch hat er schon Kompromisse geschlossen. Auf Partys, zu denen ihn seine Frau regelmäßig schleppt, nervt er sie nicht mehr, dass er wieder nach Hause wolle, um die Times "abzubauen".

Inzwischen lächelt er sogar höflich, wenn Freunde und Verwandte ihm gut zureden, nun doch einfach mal ein paar Monate zu überspringen. Das möchte er nicht. Die Sache mit dem Sportteil hat ihm schon genug zugesetzt, denn er ist begeisterter Baseball-Fan.

"Ich musste einfach mal eine Entscheidung treffen", sagt er. Auch die einmal in der Woche erscheinende Beilage Escape, in der gestresste Großstädter Anregungen für kleine Fluchten bekommen, liest er nur sporadisch.

Schließlich hat er sich sein eigenes, kleines Parallel-Universum erschaffen, in dem keine Wegweiser und Orientierungshilfen nötig sind.

"Ich lebe mit der Illusion, dass ich eines Tages die New York Times von heute aufschlagen werde", sagt er. Aber Irving Tobin ist Realist. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Ich weiß, dass es nie passieren wird."

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