Rechtsmedizin:Warum Ärzte und Polizei viele Morde übersehen

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Rechtsmediziner fordern genauere Untersuchungen von Leichen, um mehr Verbrechen zu entdecken.

(Foto: dpa)

Rechtsmediziner beklagen, dass die Leichenschau häufig schlampig durchgeführt wird. In Frankfurt startet nun ein Pilotprojekt, um mehr Tötungsdelikte zu entdecken.

Von Thomas Hummel

Der Fall Niels Högel gilt als größtes Verbrechen eines Einzelnen in der Nachkriegszeit - und warf viele Fragen auf: Wieso wurde er nicht früher gestoppt? Wieso blieb über Jahre unentdeckt, dass der Krankenpfleger offenbar 101 Patienten durch die Verabreichung von Medikamenten ermordete? Während er schon im Gefängnis saß, mussten die Ermittler die Zahl der Opfer immer wieder nach oben korrigieren. Das Klinikum in Delmenhorst, eines der betroffenen Krankenhäuser, reagierte unter anderem damit, die Leichenschau zu verbessern. Also den Vorgang, wenn ein Arzt den Tod und die Todesursache feststellt. Denn offensichtlich gab es hier Defizite.

Nicht nur Delmenhorst hat Aufholbedarf. Seit vielen Jahren fordern Rechtsmediziner und die Polizei in ganz Deutschland eine Verbesserung der Leichenschau. Diese wird offensichtlich häufig nachlässig durchgeführt, was Experten der Universität Rostock zuletzt wieder feststellten: Sie untersuchten in einer Studie 10 000 Todesbescheinigungen: Davon waren lediglich 223 fehlerfrei, 44 Mal wurde fälschlicherweise ein natürlicher Tod festgestellt. Marcel Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt am Main, äußerte einmal den Verdacht, dass jedes dritte Tötungsdelikt wegen einer mangelhaften Leichenschau in Deutschland unentdeckt bleibe. Mehrere Rechtsmediziner kamen zu dem Ergebnis, dass weit mehr als 1000 Tötungsdelikte pro Jahr übersehen werden, weil der Tote nicht genau genug untersucht werde.

Verhoff erzählt gerne von dem Fall, als er einmal das Pflaster vom Brustkorb eines Toten zog und eine Stichwunde entdeckte. Im Totenschein war "natürlicher Tod" angekreuzt. Nun hat er in Frankfurt ein Pilotprojekt angeregt. Künftig soll dort deutlich häufiger ein Rechtsmediziner klären helfen, ob es sich um ein Verbrechen handelt. Dieser soll immer dann hinzukommen, wenn die Polizei eine Leiche findet oder zu einem Toten gerufen wurde. Dafür will die Stadt eine neue Stelle schaffen. Frankfurt am Main sei damit die erste Kommune in Deutschland, die ihre Leichenschau professionalisiere, hieß es bei einer Pressekonferenz von Stadt, Polizei und Universitätsklinik am Freitag.

Wenn ein Mensch stirbt, kommt in vielen Fällen der Hausarzt, um den Totenschein auszufüllen und die Leichenschau durchzuführen. Da es keine verpflichtende Fortbildung gibt und diese Arbeit bei vielen Ärzten recht unbeliebt ist, kommt es offenbar zu Fehlern. Laut Deutscher Gesellschaft für Rechtsmedizin müsste der Mediziner den Toten bei hellem Licht untersuchen, ihn nackt ausziehen, auf alle Seiten drehen und in alle Körperöffnungen blicken. Pflaster und Verbände seien zu entfernen. Viele Angehörige sind davon allerdings nicht begeistert. "Die meisten Totenscheine werden am Küchentisch ausgefüllt", sagte Verhoff zuletzt. "Der Tote liegt im Bett, da schaut man mal durch die Tür."

Schreibt der Arzt "ungeklärte" oder "nicht-natürliche Todesursache" auf den Schein, muss er zwingend die Polizei verständigen. Die Leitung eines Pflegeheims freue sich aber nicht, wie Verhoff sagte, wenn der Heim-Mediziner ständig die Polizei ins Haus rufe.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter beklagte zudem bereits 2015, dass ihre Beamten teilweise bis zu zehn Stunden neben einer Leiche verbringen müssen, bis ein Arzt komme, um die Leichenschau vorzunehmen. Dieser Missstand soll nun in Frankfurt mit dem zusätzlichen Rechtsmediziner behoben werden.

Auch anderswo gehen die Behörden das Problem an. In Bremen wird seit August jeder Verstorbene von einem ausgebildeten Leichenarzt begutachtet. In Niedersachsen verschärfte der Landtag das Bestattungsgesetz. Damit sollte nach Vorstellung der Rechtsmediziner auch erreicht werden, dass die Zahl der Obduktionen in Deutschland steigt. Derzeit werden nur etwa zwei Prozent aller Leichen obduziert, also die Leiche geöffnet, um die Todesursache herauszufinden. Experten halten eine Quote von bis zu 30 Prozent für sinnvoll, andere europäische Länder zum Beispiel in Skandinavien kommen auf bis zu 50 Prozent.

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